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Arri blieb stehen und drehte sich ganz zu ihnen herum. »Wohin gehen wir?«, fragte sie mit einer Stimme, die zwar fest war, aber nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte.

Im ersten Moment glaubte sie, einen Fehler begangen zu haben, denn das Gesicht des Größeren der beiden verfinsterte sich, doch der andere antwortete in ruppigem Ton: »Geh weiter, und du erfährst es noch früh genug.«

Er klang beunruhigt, fand Arri, mindestens ebenso beunruhigt wie sie selbst, und vielleicht sogar ein bisschen furchtsam. Statt seinem Befehl zu gehorchen, deutete sie zu der riesigen hölzernen Wand über sich und fragte: »Ist das... das Heiligtum?«

»Ja, und jetzt hör auf zu reden und geh weiter«, antwortete der Mann unwillig. Arri entging nicht, dass sich sein Blick weiter verfinsterte, und sie beeilte sich, rasch weiterzugehen. Trotzdem nutzte sie die Gelegenheit, noch eine entsprechende Geste in die Richtung zu machen, aus der sie gekommen waren, und in bewusst beiläufigem Ton zu fragen: »Und was ist das da?«

»Die Heilige Stadt«, antwortete der Mann widerwillig. »Nor und die anderen Priester wohnen dort, und...«

»Schweig endlich still«, fiel ihm sein Begleiter ins Wort. »Was redest du überhaupt mit ihr? Du weißt, was Nor gesagt hat!«

Arri wusste es nicht, aber es fiel ihr auch nicht besonders schwer, es sich zu denken. So, wie sie Nor einschätzte, hatte er den Männern wahrscheinlich erklärt, dass sie sich die Ohren zuhalten müssten, sobald sie auch nur den Mund aufmachte, damit sie sie nicht mit ihren Hexenkräften verzauberte.

Dann aber begegnete sie dem Blick des Kriegers, und was sie darin las, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hätte. Natürlich war der Mann sehr aufmerksam. Mehr als einer der zahllosen Fluchtpläne, die sie in der endlosen Zeit ihrer Gefangenschaft ersonnen hatte, fußten auf der Hoffnung, dass ihre Bewacher sie für geschwächt und verwirrt halten und somit unterschätzen würden, in welchem Fall sie die eine oder andere unangenehme Überraschung für sie bereit gehabt hätte.

Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Ganz im Gegenteiclass="underline" Wenn sie etwas im Blick des dunkelhaarigen Mannes las, dann, dass er nicht nur ganz genau wusste, wer sie war und vor allem, wozu sie imstande war. Wenn überhaupt, dann würde dieser Mann sie allenfalls über- und nicht unterschätzen. Doch was sie wirklich erschreckte, das war etwas, was nur für einen ganz kurzen Moment in seinen Augen aufblitzte, gerade lange genug, bis er erkannte, wie deutlich sie ihm seine wahren Gefühle ansah, und den Ausdruck hastig aus seinem Blick verbannte.

Es war nichts anderes als Mitleid.

Der Anblick verstörte Arri so sehr, dass sie mitten im Schritt innehielt, den Mann anstarrte und erst weiter ging, als er ihr einen derben Stoß gegen die Schulter versetzte.

Arri stolperte hastig vorwärts, und auf dem Gesicht des Mannes, der sie gestoßen hatte, erschien ganz kurz ein fast schuldbewusster Ausdruck, der aber ebenso rasch wieder verschwand wie der mitfühlende Blick, mit dem er sie zuvor gemustert hatte. Ohne den mächtigen Palisadenzaun zu ihrer Rechten auch nur mit einem einzigen Blick zu bedenken, scheuchte der Krieger sie vor sich her, dann hatten sie das gewaltige Gebilde halb umrundet, und Arri konnte sehen, was auf der anderen Seite des Hügels lag.

Eigentlich war es schon eher ein kleiner Berg, der die Bezeichnung Hügel nicht mehr wirklich verdiente. Der Blick reichte von hier aus ungehindert und weit über das von einem nahezu geschlossenen Wald bedeckte Land, bevor er sich im Dunst des kalten Vormittages verlor. Ganz instinktiv sah Arri nach Süden, in die Richtung, in der sie ihr heimatliches Dorf wusste, und ein Gefühl abgrundtiefer Enttäuschung ergriff von ihr Besitz, als sie es nicht entdeckte. Dabei wusste sie doch, dass sie gut anderthalb, wenn nicht zwei Tagesmärsche von ihrer Heimat entfernt war.

Sie senkte den Blick und war im ersten Moment verwirrt, keinen weiteren Palisadenzaun oder irgendeine andere Art von Befestigung zu sehen. Dennoch war die mit Raureif überpuderte Ebene am Fuße des Hügels nicht leer. Neben ein paar windschiefen Schuppen schien ein gewaltiges Langhaus geradewegs aus dem Boden zu wachsen, und auf seiner anderen Seite, an zwei Seiten vom Wald begrenzt, erstreckte sich ein hölzernes Gatter, in dem ein Dutzend struppiger Rinder missmutig an hart gefrorenen Grashalmen zupften.

Die Rinder wurden als Fleischvorrat für den Winter wohl auch dringend benötigt, denn in dem Langhaus fanden wahrscheinlich mehr Menschen Platz als in ihrem ganzen Dorf; und so, wie es sich anhörte, schienen sich auch jetzt mehr darin aufzuhalten. Das zertrampelte Gras und der aufgeweichte Boden vor dem Eingang machten klar, wie emsig das Kommen und Gehen hier sein musste. Natürlich war es schwer, so etwas zu schätzen, aber Arri nahm dennoch an, dass dieses ungewöhnliche Haus mindestens so groß wie Targans sein musste, wenn nicht größer, sich ansonsten aber vollständig von diesem unterschied, denn es hatte nur ein einziges Stockwerk, und seine Wände waren nicht aus Stein, sondern aus lehmverputzten Flechtwerkwänden erbaut. Das reetgedeckte Dach zog sich an drei Seiten fast bis zum Boden hinab, und mit Ausnahme eines einzigen Rauchabzuges, aus dem sich eine fast weiße Qualmwolke trotz des böigen Windes beinahe senkrecht in die Luft erhob, konnte Arri auch keine anderen Öffnungen erkennen und schon gar keine Gucklöcher oder Fenster.

Dafür war die Schmalseite des Gebäudes, auf die sie von der Höhe des Hügels hinabsehen konnte, umso beeindruckender. Hier gab es Fenster, deren Größe über die Entfernung hinweg schwer einzuschätzen war, die aber nahezu mannshoch sein mussten und eine gewaltige Tür flankierten, breit genug, um einen Ochsenkarren hindurchzulassen, und fast doppelt so hoch wie ein groß gewachsener Mann. Eine solche Tür (von den Fenstern gar nicht zu reden), dachte Arri, machte überhaupt keinen Sinn, denn schließlich war es der Sinn eines Hauses, Kälte und Wind draußen zu halten und die Wärme drinnen, was bei so absurd großen Löchern in den Wänden eigentlich unmöglich war. Aber das war lange nicht alles, was an diesem sonderbaren Haus nicht stimmte.

»Geh weiter«, sagte der Mann hinter ihr grob. »Der Hohepriester wartet auf dich, und er ist kein sehr geduldiger Mann.«

Sie folgte der Aufforderung, kam aber nun auch ohne zu trödeln nur noch langsam von der Stelle. Der Hang war abschüssiger, als es von oben den Anschein gehabt hatte, und der weiße Schimmer auf dem Gras schien wohl doch nicht nur Raureif zu sein, denn sie hatte mehr als einmal das Gefühl, um ein Haar auszurutschen, sodass sie sich schließlich nur noch mit vorsichtigen kleinen Schritten bewegte und die Arme seitlich ausstreckte, um nicht zu stürzen. Als sie schließlich die grasbedeckte Ebene erreicht hatten, konnte Arri noch keine Worte verstehen, aber sie hörte das typische, an- und abschwellende Raunen einer großen Menschenmenge, die vergebens versucht, völlige Ruhe zu bewahren, dann und wann unterbrochen vom scharfen Tonfall eines Befehles, der aber allenfalls für einige wenige Atemzüge tatsächlich für Ruhe sorgte.

Ihr Herz begann zu klopfen, als sie sich der gewaltigen Tür in der Schmalseite des Langhauses näherten, und obwohl sie nicht zu ihnen zurücksah, spürte sie doch, dass auch ihre Begleiter in zunehmendem Maße angespannter wurden. Aber wieso? Sicherlich war Nor ein mächtiger und gefürchteter Herrscher, bei dessen bloßem Anblick auch die Herzen noch viel tapfererer Krieger schneller zu schlagen begannen; aber diese beiden lebten hier und sollten eigentlich hinlänglich Gelegenheit gehabt haben, sich an seine Nähe zu gewöhnen. Wenn sie trotzdem so sichtlich beunruhigt waren, wenn sie zu ihm gingen, dann sagte das Arri eine Menge über Nor und die Art, auf die er seine Untertanen behandelte. Genau genommen sogar eine Menge mehr, als sie eigentlich wissen wollte.

Erst jetzt fiel Arri auf, dass dieses gewaltige Langhaus nicht ebenerdig erbaut worden war, sondern auf einem wahren Wald halb mannshoher, armdicker Stützen stand, sodass Ungeziefer und die Kälte des Bodens im Winter es schwer hatten, in sein Inneres zu kriechen. Vier breite, aus nur flüchtig gehauenen Baumstämmen gefertigte Stufen führten zu der gewaltigen Tür hoch, die aus der Nähe betrachtet noch viel größer war, als Arri ohnehin geglaubt hatte. Auch die beiden Fenster rechts und links davon hatten eigentlich die Größe und Abmessung von Türen, nur, dass sie nicht direkt auf dem Boden angebracht waren, und nun sah Arri noch etwas, das ihr Unbehagen weiter schürte: Von weitem hatte es den Anschein gehabt, als würde die Tür von zwei wie erstarrt dastehenden, hoch gewachsenen Kriegern flankiert, die sich schwer auf ihre Speere stützten und runde, bronzene Schilde trugen, aber jetzt erkannte sie, warum die Männer vollkommen reglos dastanden.