Sie konnten sich gar nicht bewegen, denn es waren gar keine Männer, sondern lebensgroße, kunstvoll aus Holz geschnitzte Statuen, die mit echten Waffen, echter Kleidung und wie Arri mit einem Anflug kalten Entsetzens feststellte, echten Haarschöpfen ausgestattet waren, deren unglückselige Besitzer ihre Haarpracht sicherlich nicht freiwillig hergegeben hatten. Ihre Gesichter waren nur grob geschnitzt, doch der unbehagliche Blick, mit dem Arri sie aus den Augenwinkeln musterte, machte ihr fast sofort klar, dass es sich dabei nicht um Nachlässigkeit, sondern ganz im Gegenteil um Absicht handelte, denn die grob angedeuteten Züge und starren Augen verliehen diesen stummen Wächtern etwas ungemein Bedrohliches.
Und noch etwas geschah, das ihr ebenso unerklärlich blieb wie vieles von dem, was sie an diesem Morgen schon gesehen hatte, ihr aber dennoch einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ: Genau wie beim Anblick des versteinerten Dorfes vorhin hatte sie das Gefühl, etwas zu betrachten, das nicht hierher gehörte, sondern Teil einer Welt war, die es hier niemals gegeben hatte. Obwohl diese beiden Statuen ganz sicher aus nichts anderem als Holz und Stoff und Leder und Farbe bestanden, schien von ihnen doch zugleich etwas Wildes auszugehen, etwas, das einen erwarten ließ, sie im nächsten Augenblick aus ihrer ewigen Starre erwachen zu sehen, damit sie sich auf den frechen Eindringling stürzen konnten, der es wagte, die Ruhe dieses heiligen Ortes zu stören.
So abwegig dieser Gedanke auch sein mochte, es gelang Arri nicht, ihn vollends in die unaufgeräumte Ecke ihres Bewusstseins zu verbannen, die für Unsinn, Ammenmärchen und Geschichten von jener Art vorbehalten war, mit denen man im Allgemeinen kleine Kinder erschreckte; oder auch schon einmal größere, auch wenn diese das niemals zuzugeben pflegten. So stark war der unheimliche Eindruck, von diesen leblosen, geschnitzten Augen angestarrt zu werden, dass sie ihren Schritt spürbar verlangsamte, während sie zwischen den beiden stummen Wächtern hindurchging und über die Schulter hinweg fragte: »Was bedeuten diese Figuren?«
»Das weiß niemand«, antwortete der Mann, der schon mehrmals mit ihr gesprochen hatte. »Sicher nichts Gutes. Nor hat sie von einer seiner Reisen mitgebracht. Und jetzt geh schneller und schweig still!«
Arri gehorchte beiden Befehlen; sie hatte es plötzlich sehr eilig, dem Blick dieser toten Augen zu entrinnen und durch die Tür zu eilen. Anders als in Targans Haus gab es hier keine Fenster, mit Ausnahmen der beiden Öffnungen rechts und links der Tür, sodass alles, was weiter als wenige Schritte jenseits des Eingangs lag, nur vom Schein einiger weniger, dafür aber heftig rußender Fackeln erhellt wurde, die längst der Wände brannten. Arri konnte auch jetzt kaum mehr als Schatten erkennen, doch selbst wenn sie vollkommen blind gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich gespürt, dass sich eine große Menschenmenge hier drinnen versammelt hatte. Dabei war das Raunen und Stimmengemurmel schlagartig und fast vollkommen verstummt, kaum dass sie eingetreten war, und obwohl Arri nur sehr wenige der zahlreichen Gesichter erkennen konnte, die sich in ihre Richtung gedreht hatten, spürte sie doch, dass sie jede einzelne Person hier drinnen anstarrte.
Es war kein schönes Gefühl.
Schlimmer noch als das Gefühl jedoch, mit zu vielen Menschen in einem viel zu kleinen Raum eingepfercht zu sein, war der Gestank, der ihr entgegenschlug. Es roch nach Rauch und Schweiß, nach Vieh und Mist und trockenem Mehl und nassem Stroh, aber auch nach Abfällen und schlecht gewordenem Obst, und ganz leicht auch nach etwas, das Arri sehr wohl im allerersten Moment erkannte, aber schlichtweg nicht wollte: nach Blut. Ihr Herz schlug plötzlich noch schneller, und dann, ohne Warnung und von einem Atemzug zum anderen, war die Angst da.
Trotz allem hatte sie bisher keine wirkliche Angst verspürt. Furcht, ja. Unbehagen und Unsicherheit und selbstverständlich Angst vor dem, was sie hier erwarten mochte, aber es war eine sonderbar verstandesmäßige Art von Furcht gewesen, die sie trotz allem nicht wirklich berührte. Sie hatte ihren Verstand in Aufruhr versetzt und - selbstverständlich - ihre Vorstellungskraft.
Nun aber nahm etwas ganz anderes von ihr Besitz, etwas Uraltes und Machtvolles, das wie eine eisige Klaue nach ihrer Seele griff, ihren Magen zusammenpresste und ihr die Luft abschnürte. Plötzlich begannen ihre Knie zu zittern, sodass es ihr immer schwerer fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ihr Herz schien mit einem Mal irgendwo ganz oben in ihrer Kehle zu klopfen und ihr zusätzlich den Atem zu nehmen. Ein Gefühl von... Endgültigkeit streifte sie, das sie so noch niemals gespürt hatte, nicht einmal in jenen schrecklichen Momenten in der Mine, als sie felsenfest davon überzeugt gewesen war, sterben zu müssen. Ihr Leben, das bisher wie ein zwar unbekannter, aber endlos langer Pfad vor ihr gelegen hatte, schien ihr mit einem Male endlich; der Weg, hinter dessen Biegungen so viele unbekannte Dinge, manche davon vielleicht erschreckend, manche schlimm, andere aber auch wunderbar, warten mochten, führte nicht weiter. Irgendetwas sagte ihr mit unerschütterlicher Gewissheit, dass er endete, nicht irgendwann und irgendwo, sondern heute, jetzt und hier, in diesem Haus.
Der Mann hinter ihr versetzte ihr einen sachten Stoß zwischen die Schulterblätter, als ihre Schritte immer langsamer wurden und sie stehen zu bleiben drohte. Arri stolperte, obwohl die Berührung nicht einmal kräftig genug gewesen war, um sie tatsächlich aus dem Gleichgewicht zu bringen, sondern allenfalls so etwas wie eine Warnung gewesen war. Sie ging wieder schneller und versuchte gleichzeitig, die unsinnige Angst niederzukämpfen, die in immer stärkerem Maße von ihren Gedanken Besitz ergreifen wollte.
Natürlich erreichte sie damit eher das Gegenteil. Ihr Herz klopfte noch heftiger, und ihre Knie zitterten jetzt so stark, dass es sie tatsächlich alle Mühe kostete, sich noch auf den Beinen zu halten. Sie wünschte sich, ihre Mutter wäre hier, um diesem Albtraum ein Ende zu machen.
Flankiert von den beiden Männern, die nun so dicht zu ihr aufgeschlossen hatten, dass Arri ihre Nähe geradezu körperlich spüren konnte, näherte sie sich dem hinteren Teil des großen Raumes, der tatsächlich das gesamte Innere des Langhauses zu beanspruchen schien. So riesig das Gebäude auch war, wirkte es im Moment trotzdem beengt, denn es quoll geradezu über vor Menschen. Nor musste all seine Untertanen zusammengerufen haben, damit sie an dieser Unterredung teilnehmen konnten, und auch diese Erkenntnis trug nicht unbedingt zu Arris Beruhigung bei. Es waren Dutzende - Männer, Frauen, Kinder, Greise, aber auch Krieger und Mütter, die ihre Säuglinge auf den Armen trugen, und was Arri in den Gesichtern der Menschen las, die nur widerwillig vor ihr und ihren Begleitern zur Seite wichen, das war überall und fast ausnahmslos dasselbe: Eine Mischung aus Neugier und jener Scheu, mit der man vielleicht ein exotisches und gefährliches Tier betrachten mochte, allerdings eines, das sicher in einem Käfig eingesperrt war und somit keine Gefahr mehr darstellen konnte, aber auch etwas wie eine boshafte Schadenfreude, Häme und Zorn, und nur zu oft blanken Hass. Was hatte Nor über sie und ihre Mutter erzählt?