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»Sie haben uns nicht verfolgt.«

»Bist du da sicher?«, fragte Lea.

Grahl druckste herum, während sich Arris Mutter tiefer über seinen Bruder beugte und mit ihrem winzigen Messer den Verband aus Blättern aufschnitt. »Ja«, gestand er schließlich. »Hätten sie es getan, dann hätten sie uns wahrscheinlich auch erwischt. Wir sind nicht gut vorangekommen. Kron hat viel Blut verloren und konnte nicht sehr schnell laufen, und schon in der ersten Nacht hat er Fieber bekommen. Ein Stück des Weges musste ich ihn tragen. Ich hatte Angst, dass er auch stirbt. Du... du wirst ihm doch helfen, oder?«

Lea antwortete nicht. Sie hatte den Verband mit einem Schnitt der Länge nach geteilt. Jetzt legte sie das Messer aus der Hand, griff aber noch nicht nach der Masse aus blutdurchtränkten Blättern und Moos, sondern wandte sich mit einem ungeduldigen Blick an ihre Tochter. »Komm her.«

Arri zögerte. »Aber das Feuer...«

»Wird schon nicht ausgehen, in dem kurzen Augenblick«, unterbrach sie ihre Mutter. »Vielleicht brauche ich deine Hilfe. Und außerdem wäre es ganz gut, wenn du lernst, wie man mit Verletzungen umgeht. Komm.«

Unsicher stand Arri auf, trat an ihre Seite und ließ sich zögernd auf die Knie sinken. Abgesehen davon, ihr die Werkzeuge, Heilkräuter und das Wasser zu bringen und sich um das Feuer zu kümmern, konnte sich Arri nicht vorstellen, wie sie ihrer Mutter helfen sollte. Sie verstand nicht besonders viel von den Künsten ihrer Mutter, die sie vor ihr fast ebenso eifersüchtig hütete wie vor allen anderen.

»Halte seinen Arm«, befahl Lea. Wahrscheinlich hatte die Aufforderung Grahl gegolten, doch bevor der Jäger zugreifen konnte, hatte Arri bereits Krons Handgelenk umschlossen und hielt es so fest wie sie konnte. Es kostete sie eine Menge Überwindung. Krons Haut fühlte sich heiß an und so trocken wie altes Leder, das über die ganze Mittagszeit in der Sonne gelegen hatte, und sie konnte spüren, wie rasend schnell sein Herz schlug.

»Haltet ihn gut fest«, sagte Lea noch einmal. »Wenn der Verband an der Wunde festklebt, wird es sehr wehtun.«

Arri spannte die Muskeln an, und auch Grahls Griff um die Schultern seines Bruders verstärkte sich, als Lea unendlich behutsam den Blätterverband auseinander bog. Trotzdem stöhnte Kron leise, und Arri musste nun fast ihre gesamte Kraft aufwenden, um seinen Arm weiter ruhig zu halten. Ein erbärmlicher Gestank begann sich in der Hütte auszubreiten, als Lea das zusammengebackene Gemisch aus Blättern, Blut und Moos vorsichtig von Krons Arm streifte; es roch nach Eiter und altem Blut und Schmutz, aber auch noch nach etwas anderem, Schlimmerem. Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und musste gegen ein leises Gefühl von Übelkeit ankämpfen, als sie Krons Arm das erste Mal wirklich sah. Das Gesicht ihrer Mutter aber nahm einen deutlich besorgten Ausdruck an.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte sie, und allein die Tatsache, dass sie das sagte, alarmierte Arri über die Maßen, denn gewöhnlich gehörte es zu den ehernen Grundsätzen ihrer Mutter, den Leuten, die zu ihr kamen, stets Mut zu machen. Andererseits, dachte Arri und wagte einen zweiten, etwas längeren Blick auf Krons Arm, nachdem ihr Magen wirklich zu revoltieren begann, wäre alles andere einfach nur lächerlich gewesen. Der Arm des Jägers hatte sich schwarz verfärbt und war nahezu auf das Doppelte seines normalen Umfangs angeschwollen. Die Wunde reichte bis auf den Knochen, der zwar nicht ganz gebrochen, aber auf der Länge einer Handspanne gesplittert war, und der üble Geruch, den sie verströmte, schien mit jedem Moment schlimmer zu werden. Es war nicht zu erkennen, was auf seiner schwarz verfärbten Haut faulendes Fleisch und was Reste des drei Tage alten Verbandes waren, aber Arri wunderte sich im Grunde, dass der Mann überhaupt noch lebte.

»Bring mir eine Schale Wasser«, verlangte ihre Mutter, »und etwas von dem gepressten Mohn.«

Arri stand gehorsam auf, verschwand im Nebenzimmer und kam mit einer flachen hölzernen Schale zurück, die ein grobkörniges, schwarzes Pulver enthielt. Das Allermeiste davon waren tatsächlich getrocknete Mohnsamen, aber sie wusste, dass ihre Mutter auch noch einige andere, geheime Ingredienzien darunter gemischt hatte, und hätte sie nicht schon der Anblick von Krons Arm alarmiert, so hätte es spätestens die Tatsache getan, dass ihre Mutter nach diesem Pulver verlangte. Seine Herstellung war sehr aufwändig und zeitraubend, und ihre Mutter hatte ihr oft genug eingeschärft, dieses Pulver niemals - niemals - zu berühren oder ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis herauszugeben, denn es versetzte denjenigen, der es nahm, nicht nur in einen tiefen Schlaf, in dem er weder Schmerz noch sonst etwas spürte, sondern konnte den Schlaf auch übergangslos in den Tod übergehen lassen, wenn man nur eine Winzigkeit zu viel davon verabreichte.

Umso überraschter war Arri nun, als sie die großzügige Menge sah, die ihre Mutter in die Schale mit Wasser einrührte, welche sie ihr gebracht hatte. Sie beruhigte sich selbst damit, dass Kron auch ein außergewöhnlich großer und starker Mann war, und sah schweigend zu, wie Lea die Schale an seine Lippen setzte und ihm gut die Hälfte des Wassers einflößte.

»Wir müssen warten, bis der Trank wirkt«, sagte sie und reichte Arri die Schale zurück. »Hier. Stell das gut weg. Wir brauchen es vielleicht später noch einmal.«

Während Arri gehorchte, wandte Lea sich wieder an Grahl. »Wo genau habt ihr diese Fremden getroffen?«

»Im Osten«, antwortete der Jäger.

»Drei Tage weit im Osten?«, erwiderte Lea. Der Zweifel in ihrer Stimme war unüberhörbar. Niemand ging so weit, um ein Wildschwein zu jagen. Das sprach sie zwar nicht laut aus, aber sowohl Arri als auch Grahl hörten es irgendwie trotzdem heraus.

»Keine drei Tage«, antwortete er. »Aber auf der anderen Seite des großen Flusses. Allein und ohne Kron wären es weniger als zwei Tagesmärsche gewesen.«

»Das ist trotzdem weit«, sagte Lea. Sie klang besorgt. »Wieso habt ihr den Fluss überquert?«

Was geht dich das an?, antwortete Grahls Blick. Er presste trotzig die Lippen zusammen und schwieg, aber er musste ebenso gut wie Arri wissen, dass er diese Frage würde beantworten müssen. Wenn nicht ihnen, dann spätestens Sarn. Der große Fluss im Osten stellte nicht nur eine beinahe unüberwindliche Barriere dar, an der die bekannte Welt endete, sondern markierte zugleich auch die Grenze, bis zu der der Einflussbereich Gosegs und der mit dem Heiligtum verbündeten Sippen und Dörfer reichte. Was dahinter lag, war Niemandsland, über dessen Bewohner man wenig wusste, um das sich dafür aber umso mehr Gerüchte rankten. Aber noch nie hatte jemand etwas von Riesen erzählt, die sonderbare Kleidung trugen und mit Schwertern auf harmlose Jäger losgingen. Soviel Arri wusste, gab es dort eben andere Dörfer, andere Sippen und vielleicht andere Heiligtümer, in denen andere Götter angebetet wurden, dennoch aber Menschen.

»Wir haben die Schweine zwei Tage lang verfolgt«, sagte Grahl schließlich in trotzigem Ton. »Ich lasse keine Beute entkommen, nur, weil sie durch einen Fluss flieht.«

»Aber du hast die Gerüchte gehört«, sagte Lea ruhig. »Über die fremden Krieger aus dem Osten. Du und deine Brüder, ihr wolltet nicht einfach einmal nachsehen, was an diesen Gerüchten dran ist?«

»Gerüchte«, sagte Grahl abfällig. »Dummes Gerede, mit dem man Kindern Angst macht, damit sie sich abends nicht vom Feuer entfernen.«

Lea seufzte. »Ja, und jetzt ist einer deiner Brüder tot, und der andere...« Sie schüttelte den Kopf, sah auf Kron hinab und hob dann mit einem neuerlichen Seufzen die Schultern. »Aber das geht mich nichts an. Was immer ihr getan habt oder auch nicht, ist geschehen, und ihr habt einen ziemlich hohen Preis dafür bezahlt.«