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»Du sollst mich ansehen, wenn ich mit dir rede, du unverschämtes Kind!«, fuhr Nor sie an. Er machte eine wütende Geste zu den Männern hinter ihr. »Lehrt sie Gehorsam!«

Arri hatte ihn angesehen, und zwar so direkt, wie es überhaupt ging, und so konnte sie Nor jetzt einfach nur verwirrt anstarren und sich fragen, was er überhaupt von ihr wollte, doch in diesem Moment traf sie bereits ein harter Schlag in den Rücken, der sie nach vorn stolpern und auf die Knie fallen ließ. Irgendwie gelang es ihr, ihren Sturz abzufangen, sodass sie zumindest nicht mit dem Gesicht im Dreck landete, aber nun lag sie vor Nor auf den Knien, und wahrscheinlich war es ganz genau das, was er gewollt hatte. Ringsum wurde ein beifälliges Raunen laut, und die jüngere von Nors Frauen, die sie gerade schon so feindselig angeblickt hatte, verzog die Lippen zu einem schadenfroh Grinsen, bei dem sie zwei Reihen schmutziger und trotz ihrer Jugend bereits halb verfaulter Zähne offenbarte.

»Das wird dich vielleicht ein bisschen Respekt lehren«, fuhr der Schamane fort. »Aber was erwarte ich von einer wie dir?«

Arri schluckte mit Mühe die Antwort herunter, die ihr dazu auf den Lippen lag, aber sie spürte selbst, dass sie ihren Blick nicht annähernd so gut unter Kontrolle hatte wie ihr Gesicht. Das Mädchen neben Nor runzelte die Stirn, und auch die schmalen Finger des alten Schamanen schlossen sich einen Moment so fest um die Lehnen des Sessels, als wollte er sie zerbrechen. Dann aber entspannte er sich wieder und zwang stattdessen ein überhebliches Lächeln auf seine Lippen. Er würde ihr die Genugtuung nicht bieten, ihn hier und vor all seinen Untertanen wütend gemacht zu haben.

»Du weißt, warum du hier bist?«, fuhr er nach einer Weile fort. Da Arri nicht das Gefühl hatte, dass er tatsächlich eine Antwort auf diese Frage erwartete und ihm auch keinen Anlass geben wollte, sie erneut züchtigen zu lassen, sah sie ihn nur weiter fragend an. Nor verzichtete darauf, dieses Schweigen abermals zum Anlass zu nehmen, sie schlagen zu lassen, und fuhr fort: »Eigentlich wäre es deine Mutter, die hier vor uns stehen und sich für ihre Taten verantworten müsste. Aber da sie es vorgezogen hat, feige davonzulaufen und ihr einziges Kind seinem Schicksal zu überlassen, wirst du an ihrer Stelle sein.«

Arri erhob sich mühsam in eine zwar kniende, aber dennoch halbwegs aufrechte Haltung, wagte es aber nicht, gänzlich aufzustehen. Auf einen Wink Nors hin zerrte sie einer der beiden Männer grob in die Höhe. Sie stand kaum auf ihren Füßen, da ergriff der andere auch schon ihren anderen Oberarm und hielt ihn so derb fest, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Allem Anschein nach war einfach alles, was sie hier sagte oder tat, falsch. Sie tröstete sich damit, dass das weniger an ihr lag, als vielmehr daran, dass Nor das eben so wollte.

»Ich verstehe nicht, was Ihr überhaupt von mir wollt«, sagte sie, zwar laut, aber mit viel weniger fester Stimme, als sie beabsichtigt hatte. »Warum bin ich hier? Was werft Ihr meiner Mutter vor?«

Nor riss die Augen auf und ächzte, als hätte sie keine harmlose Frage gestellt, sondern ihn auf die unverschämteste Art beleidigt, die man sich nur denken konnte, und auch in der Menge hinter ihr wurde ein unwilliges Murren und Raunen laut, und ein paar Rufe, deren genaue Bedeutung sie lieber nicht verstand. Selbst Rahn, der hinter Nors Thron stand und sich bisher nach Kräften bemüht hatte, so zu tun, als wäre sie gar nicht da, fuhr zusammen und starrte sie erschrocken an.

»Was deine Mutter getan hat?«, ächzte Nor. Er beugte sich in seinem gestohlenen Stuhl vor und starrte sie aus plötzlich schmal zusammengekniffenen Augen an. »Was deine Mutter getan hat, fragst du?«, keuchte er noch einmal. »Bist du tatsächlich so dumm, wie du zu sein vorgibst, oder einfach nur unverschämt?«

Arri hütete sich, irgendetwas darauf zu antworten oder auch nur eine entsprechende Miene zu verziehen, die dazu angetan gewesen wäre, Nors Unmut anzustacheln. Es war ohnehin gleich, was sie sagte oder tat.

»Was deine Mutter getan hat, hat die Götter erzürnt, und wir sind hier zusammengekommen, um ihre Vergebung und ihre Gnade zu erflehen und über deine Mutter und dich Gericht zu sitzen.«

Arri musste sich auf die Lippen beißen, um darauf nicht die passende Antwort zu geben. Sie war sicher, dass die Hälfte der Männer und Frauen, die hier zusammengekommen waren, nicht einmal verstand, wovon der Schamane überhaupt sprach und mehr als die Hälfte der verbliebenen Hälfte nicht wirklich daran Anteil nahm.

»Aber gut«, fuhr Nor fort, »wenn du es möchtest, dann will ich dir gern antworten. Niemand soll mir nachsagen, ich wäre ungerecht oder hätte einer jungen Frau nicht die Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen.« Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, dann ließ er sich wieder zurücksinken und löste die rechte Hand von der Sessellehne, um sie in einer ebenso unbewussten wie Besitz ergreifenden Geste auf den Kopf des Mädchens zu senken, das neben ihm auf dem Boden hockte. Als er weitersprach, klang seine Stimme plötzlich ruhiger, aber auch sehr viel lauter, als wolle er sicher sein, dass auch der Letzte in dem großen Haus seine Worte hörte.

»Du hast gefragt, was wir deiner Mutter vorwerfen. Ich will es dir sagen. Vor langer Zeit, als du noch ein kleines Kind warst, ist sie in unser Land gekommen. Sie war allein und hilflos, ohne einen Mann, ohne ein Ziel, ohne ein Volk oder Freunde. Sie hat uns um Hilfe gebeten, und wir haben ihr Gastfreundschaft und Schutz gewährt, wie es seit Urzeiten unser Brauch ist. Wir haben ihr erlaubt, sich bei uns niederzulassen und ein Haus zu bauen. Wir haben ihr zu essen gegeben, unseren Schutz und unser Land, und obwohl sie anderen Göttern huldigte als wir, haben wir nicht einmal verlangt, dass sie ihnen abschwört. Aber vielleicht war das ein Fehler, denn der Einfluss dieser Götter wurde stärker, mit jedem Sommer, den sie bei uns war.«

Arri begriff sehr wohl, worauf er hinauswollte, aber sie war im ersten Moment dennoch überrascht. Obwohl sie Nor ebenso verachtete, wie sie ihn hasste, beging sie doch nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Nor mochte gierig und grausam sein, aber er war nicht dumm. Umso weniger verstand sie nun, warum er es ihr so leicht machte. Die innere Stimme, die sie schon so oft vergeblich zu warnen versucht hatte, meldete sich auch jetzt wieder zu Wort, aber Arri hörte nun weniger denn je auf sie, denn wenn ihr eines klar war, dann, dass Nor soeben ein schwerer Fehler unterlaufen war - und dass das vielleicht ihre einzige Gelegenheit war, noch einigermaßen unbeschadet aus dieser Geschichte herauszukommen.

Fast zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: »Ihr meint, ungefähr im gleichen Maße, in dem eure Felder bessere Erträge abgeworfen haben, eure Jäger mehr Wild nach Hause gebracht haben und weniger von euren Frauen bei der Geburt ihrer Kinder gestorben sind, und Krankheiten und Wunden weniger Opfer gefordert haben?« Sie sah Nor herausfordernd an, und sie konnte das triumphierende Lächeln, das sich ohne ihr Zutun auf ihrem Gesicht ausbreitete, selbst spüren. »War es ungefähr das, was Ihr sagen wolltet, Nor?«

Rahns Augen weiteten sich, und der Ausdruck darin war nun pures Entsetzen. Auch einer der beiden Männer hinter ihr sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein, und den Ausdruck auf Nors Zügen vermochte sie nicht einmal mehr zu deuten. Aber plötzlich hatte sie das sehr ungute Gefühl, dass nicht Nor es gewesen war, der gerade einen schrecklichen Fehler begangen hatte, denn auch seine Augen leuchteten auf, aber es waren nicht Wut oder Bestürzung, die sie darin las, sondern... Triumph?

Nor antwortete nicht sofort, sondern sah sie einen Moment lang nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf, seufzte hörbar und fragte in unerwartet sanftem Ton: »Du armes Ding. Ist es das, was deine Mutter dir erzählt hat?«

Nein, aber das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, dachte Arri, aber zumindest diesmal war sie klug genug, ihre Gedanken für sich zu behalten.