Nors Hand streichelte den Kopf des schwarzhaarigen Mädchens neben sich, aber er tat es auf eine Art, die Arri an einen Hund denken ließ, den er in Gedanken tätschelte; und den er auch ohne die geringsten Gewissensbisse am Abend verspeisen würde. »Ich will dir nichts vormachen, Arianrhod«, fuhr er fort. »Ich bin kein Mann, der nicht ein offenes Ohr für die Nöte der Menschen hätte, die in meinem Schutz leben. Es gibt ein paar in eurem Dorf - nicht viele, aber einige doch -, die zu deinen Gunsten gesprochen haben. Anfangs wollte ich ihnen nicht glauben, denn was ich im Zwiegespräch mit den Göttern erfahren habe, war etwas anderes, und was meine Augen gesehen haben, auch. Dennoch frage ich mich, ob sie nicht vielleicht Recht hatten.«
Recht womit?, fragte sich Arri. Sie warf einen fast Hilfe suchenden Blick in Rahns Richtung, aber der vermeintliche Fischer sah starr an ihr vorbei ins Leere und tat wiederum so, als wäre sie gar nicht da.
»Manche von denen, die dich verteidigen«, fuhr Nor fort, »sagen, dass du nichts von den Schandtaten und der schwarzen Magie deine Mutter weißt. Es fällt mir schwer, das zu glauben, aber immerhin warst du bis vor kurzem noch ein Kind, und jeder weiß, wie leicht es ist, ein Kind genau das glauben zu machen, was man will.« Er nahm die Hand vom Kopf des Mädchens und beugte sich wieder leicht vor. »Du glaubst also wirklich, deine Mutter hätte in all der Zeit, in der sie bei uns gelebt hat, nur Gutes bewirkt?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln und einem tiefen, bedauernden Seufzen. »Dann musst du wirklich sehr gutgläubig sein. Oder sehr dumm.«
»Aber... wieso denn?«, murmelte Arri. Sie hatte doch nichts anderes gesagt als das, was jedermann hier wusste und mit eigenen Augen gesehen hatte! »Aber Ihr habt doch...«, begann sie.
Nor unterbrach sie mit einer herrischen Geste, die in krassem Gegensatz zu seinem eben noch so sanften Tonfall stand. Als er weitersprach, hatte sich daran allerdings nichts geändert; ganz im Gegenteil war plötzlich ein verständnisvoller, beinahe warmer Unterton darin, als spräche er mit einem kleinen Kind, das zwar einen schweren Fehler begangen hatte, aber aus Unwissenheit, die man ihm nicht wirklich vorhalten konnte.
»Es ist wahr, mein Kind«, sagte er. »Manches hat sich scheinbar zum Guten gewendet, seit deine Mutter bei uns ist. Ich will gern zugeben, dass auch ich der Versuchung erlegen bin, die deine Mutter gebracht hat. Ja, es waren Gaben, wertvolle Gaben, kostbarer als alles, was wir jemals zuvor bekommen haben... aber nicht jeder, der Gaben bringt, ist deswegen auch ein Freund.« Er schüttelte heftig den Kopf, und seine Stimme blieb so sanft, wie sie war, wurde aber zugleich lauter und auf unangenehme Art belehrend. »Es sind die Gaben fremder Götter, die deine Mutter uns gebracht hat, Arianrhod. Gaben, die keinem anderen Zweck dienten, als sich in unsere Herzen zu schleichen und den Glauben an unsere Götter, die uns so lange und so wohl bewacht und beschützt haben, zu ersticken. Sie waren süß, doch auch das Gift ist manchmal süß.«
Er beugte sich wieder vor und stützte sich auf die Stuhllehnen, als wolle er sich im nächsten Moment abstoßen, um sich wie ein angreifender Raubvogel auf sie zu stürzen. »Ja, es hat lange gedauert. Viel zu lange! Aber nun habe ich die Wahrheit erkannt. Die Götter haben mich erleuchtet, und noch ist es nicht zu spät, das Unheil von unserem Volk abzuwenden!«
»Aber Ihr... Ihr... irrt Euch«, murmelte Arri hilflos. »Meine Mutter hat niemals...«
»Niemals - was?«, unterbrach sie Nor. Seine Augen wurden schmal. »Niemals etwas getan, was unserem Volk geschadet hätte?«
»Nein!«, sagte Arri heftig. »Sie hat immer nur Gutes getan! Sie hätte nie auch nur einem Menschen geschadet!«
Sie hatte viel lauter gesprochen, als sie beabsichtigt hatte, mit Sicherheit lauter, als gut gewesen war; eigentlich hatte sie schon beinahe geschrien. Aber es war seltsam: Allein mit ihrer Antwort hatte sie Nor jeden Grund geliefert, den er sich nur wünschen konnte, sie zu bestrafen oder dieses lächerliche Verhör, dessen Sinn ihr mit jedem Augenblick weniger klar war, zu beenden. Doch stattdessen ließ er sich wieder gegen die Lehne des ächzenden Stuhls sinken und sah sie für drei, vier, fünf endlose schwere Atemzüge lang an, und er wirkte einfach nur... zufrieden?
Auch wenn Arri sich beim besten Willen nicht den geringsten Grund dafür denken konnte, so war sie doch plötzlich sicher, dass sie gerade ganz genau das gesagt hatte, was er von ihr hatte hören wollen. Sie war in eine Falle getappt, und doch erkannte sie sie nicht einmal jetzt, wo sie sich bereits unzweifelhaft in ihr verfangen hatte.
»Du verteidigst deine Mutter.« Nor klang immer noch überaus zufrieden. »Nun, das ist dein gutes Recht, und nicht weniger, als jede Mutter von ihrem Kind erwarten darf. Ich kann und will dir das nicht zum Vorwurf machen.«
Arri warf erneut einen fast verzweifelten Blick in Rahns Richtung, und obwohl er weiterhin starr ins Leere sah, war doch nicht zu übersehen, dass er ihren Blick spürte und sich immer unwohler darunter fühlte. Warum half er ihr nicht? Warum kam nicht endlich ihre Mutter, um sie zu retten, und warum hörte dieser Albtraum nicht endlich auf?
»Du glaubst also, deine Mutter hätte niemals etwas getan, um unserem Volk zu schaden?«, fuhr Nor in plötzlich lauerndem Ton fort. »Du glaubst wirklich, alles was sie getan hätte, wäre aus reiner Selbstlosigkeit geschehen, nur um den Menschen in eurem Dorf oder auch hier bei uns zu helfen?«
»Ja!«, antwortete Arri heftig.
»Dann musst du deine Mutter wirklich sehr lieben«, antwortete Nor, »oder sehr unbedarft sein.« Er hob die Hand. »Bringt Sarn und die Männer aus ihrem Dorf hierher.«
Rahn verschwand so schnell, als hätte er sich in Luft aufgelöst, und Arris Verwirrung stieg ins Grenzenlose. Warum machte sich Nor, der Hohepriester von Goseg und Herr über Leben und Tod, eine solche Mühe, um ihr die Schuld an etwas nachzuweisen, von dem sie beide wussten, dass es der blanke Unsinn war? Er hatte es nicht nötig, ihr irgendetwas zu beweisen - ihr oder sonst jemandem. Nor war der unumschränkte Herrscher über Goseg und jeden, der unter seinem Schutz stand. Er brauchte keinen Grund, um ihr anzutun, was immer er wollte!
Sie kam sich immer hilfloser vor, und was vielleicht das Allerschlimmste war: Sie hatte plötzlich das Gefühl, dass jeder in diesem Haus wusste, was das alles zu bedeuten hatte - nur sie nicht.
»Warum bin ich hier?«, wandte sie sich - unaufgefordert, was sichtlich Nors Missfallen erregte - an den Priester. Seine Antwort kam denn auch grob und ruppig und begleitet von einer ärgerlichen Geste. »Gedulde dich nur noch einen Augenblick. Vielleicht wirst du dann erkennen, wer deine wirklichen Freunde sind, Kind.«
Arri biss sich auf die Unterlippe, um sich die Antwort zu verkneifen, die ihr auf der Zunge lag. Freunde? Sie hatte hier keine Freunde. Bisher hatte sie, trotz allem, tief in sich gehofft, dass zumindest Rahn noch so etwas wie ihr Freund wäre, doch seit seinem Besuch in ihrem Gefängnis vor zwei Nächten war sie sich auch dessen nicht mehr sicher. Immerhin hatte er unumwunden zugegeben, dass Nor ihn geschickt hatte, um sie auszuspionieren. Es machte einen Verräter nicht unbedingt vertrauenswürdiger, wenn er zugab, ein Verräter zu sein.
Sie spürte, wie hinter ihr Unruhe aufkam, und warf einen Blick über die Schulter zurück, in der Erwartung, Rahn und die Männer zu sehen, die er holen sollte. Tatsächlich bildete sich hinter ihnen eine schmale Gasse in der dicht an dicht stehenden Menge, doch es waren nicht der Fischer und Sarn, sondern ihre beiden Bewacher aus den ersten Tagen. Arri fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, als sie den Ausdruck von mühsam zurückgehaltenem Triumph auf Jamus Gesicht erblickte. Wieder hatte sie das Gefühl, diesen Mann schon einmal zuvor gesehen zu haben, und wieder war sie sich nicht sicher, wo.