»Und was tat sie dann noch, um die alten Götter herauszufordern?«, setzte Nor nach.
»Ich habe das fremde Erz genommen, das sie mir gegeben hat, und das Feuer entfacht, und ich habe zu den Göttern gebetet und die Mischung vorbereitet, und dann...« Seine Stimme stockte für einen Moment. Arri konnte sehen, wie er schauderte, als hätte ihn ein plötzlicher, kalter Windstoß getroffen. »Am Anfang war auch alles so, wie sie es gesagt hat. Aber dann ist mein Ofen geborsten. Alles hat gebrannt, und das heiße Metall ist mir ins Gesicht gespritzt und hat mich verbrannt und mir das Augenlicht genommen.«
Ein erschrockenes Murmeln und Raunen ging durch die versammelte Menschenmenge, ein Ausdruck von Mitleid und Schrecken, aber auch Zorn, den Nor eine genau berechnete Weile gewähren ließ, bevor er ihn mit einer kurzen Bewegung mit seinem Stab zum Verstummen brachte. Nur die vier Priester unterbrachen ihren monotonen Singsang nicht, der nun aber düsterer und auf schwer zu beschreibende Weise bedrohlich geworden war.
»Dann ist es so, wie ich es mir dachte«, sagte Nor. »Es war nicht deine Schuld, Achk. Sag mir, wann genau das Unglück geschehen ist.«
Der Schmied blickte nur verwirrt in die Richtung, aus der er Nors Stimme hörte, und wusste mit dieser Frage offensichtlich nichts anzufangen, doch der Hohepriester hatte ebenso offensichtlich auch gar keine Antwort erwartet, denn er drehte sich nun wieder zu Arri um und fuhr mit einem Ausdruck gespielter Anteilnahme, aber auch einem boshaften Funkeln in den Augen fort.
»Das Unglück geschah, als du zu unseren Göttern gebetet hast, habe ich Recht? Die falsche Prophetin hat dir gesagt, du sollst zu ihren Göttern beten und ihren Beistand erflehen, aber das hast du nicht getan. Stattdessen hast du getan, was jeder von uns getan hätte, und dich an unsere Götter gewandt, und es war die Strafe der fremden Götter, die dich getroffen hat, nicht dein eigenes Ungeschick.«
Arri starrte Nor fassungslos an, doch auch das schien etwas zu sein, womit Nor nicht nur gerechnet hatte, sondern das ihm auch größte Zufriedenheit bereitete, den nun reichte auch seine Selbstbeherrschung nicht mehr vollends aus, um das triumphierende Lächeln von seinen Lippen zu verbannen. Betont langsam wandte er sich wieder dem blinden Schmied zu. »War es nicht so, Achk?«
»Ja«, gestand Achk. »Genau so war es.«
Diesmal hielt das unwillige Murmeln und Raunen im Haus länger an.
»Aber das... das ist doch nicht wahr«, murmelte Arri. Sie hatte leise gesprochen und eigentlich nur zu sich selbst, doch Nor hatte ihre Worte offensichtlich gehört, denn er fuhr mit einer plötzlichen Bewegung herum und fauchte: »Woher willst du das wissen? Warst du dabei?«
»Nein«, gestand Arri. »Aber meine Mutter...«
»... hat es dir erzählt, habe ich Recht?«, unterbrach sie Nor und schüttelte heftig den Kopf. »Dann willst du Achk hier einen Lügner nennen?«
Einen Lügner vielleicht nicht, dachte Arri, nur einen Mann, der furchtbare Angst hat. »Aber meine Mutter hat ihm geholfen!«, protestierte sie. »Achk wäre gestorben, wenn sie sich nicht um seine Verletzungen gekümmert hätte!«
»Um seine Verletzungen gekümmert?« Nor spielte den Überraschten. »Aber wäre das nicht die Aufgabe eures Schamanen gewesen?« Er drehte sich zu Sarn um und maß ihn mit einem langen, strafenden Blick. »Sarn, die Götter und ich haben es dir übertragen, dich um die Menschen in eurem Dorf zu kümmern, ihre Wunden zu versorgen und ihre Krankheiten zu heilen. Warum musste sich die falsche Prophetin um Achks Verletzungen kümmern?« Seine Stimme wurde schärfer und nahm zugleich einen tadelnden Tonfall an. »Es wäre deine Aufgabe gewesen, ihm zu helfen!«
Wenn Sarn den Verweis überhaupt zur Kenntnis nahm, so schien er ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er reckte nur trotzig das Kinn vor und verteidigte sich in kaum weniger scharfem Ton. »Weil ich ihn nicht heilen konnte!«, antwortete er mit seiner schrillen, fistelnden Altmännerstimme. »Niemand hätte das gekonnt!«
»Niemand außer meiner Mutter, meinst du?«, fragte Arri. Nor würdigte sie nicht einmal einer Antwort, aber Sarn schoss einen giftigen Blick in ihre Richtung ab.
»Niemand hätte ihn heilen können!«, beharrte er. »Sein Gesicht war verbrannt, als man ihn zu mir brachte. Die Götter hatten ihm das Augenlicht genommen, und er schrie vor Schmerzen. Wer hätte je gehört, dass ein Mann mit einer solch schweren Verletzung überlebt hätte? Nur schwarze Magie kann so etwas bewirken.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Es ist nicht der Wille der Götter, dass ein Mann blind und verbrannt am Leben bleibt, um den Seinen zur Last zu fallen.« Er machte ein abfälliges Geräusch. »Wozu ist ein solcher Mann noch gut? Er isst und trinkt, er braucht Kleidung und Feuerholz im Winter, aber er kann nicht dafür arbeiten.«
»Das hättest du meiner Mutter vielleicht sagen sollen, bevor sie dir damals das Leben gerettet hat«, sagte Arri böse.
Sarn wollte auffahren, doch Nor machte eine herrisch-befehlende Geste und trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und Arri, um den direkten Blickkontakt zwischen ihnen zu unterbrechen.
»Es ist wahr«, sagte er. »Deine Mutter hat Achk vielleicht gerettet, doch hat sie ihm damit einen schlechten Dienst erwiesen. Er war ein ehrlicher, aufrechter Mann, der seine Arbeit tat und die Götter fürchtete, so wie man es von uns allen erwartet. Sein einziger Fehler war vielleicht, den Einflüsterungen deiner Mutter zu erliegen - doch wenn es ein Fehler war, so einer, den viele von uns begangen haben, auch ich, wie ich gern zugeben will.« Er hob die Stimme noch weiter, und obwohl er sich nun scheinbar direkt an Arri wandte, wurde aus seinen Worten plötzlich eine flammende Rede, die viel weniger ihr als mehr den versammelten Männern und Frauen im Haus galt.
»Reichtum und Wohlstand haben mit deiner Mutter Einzug in unsere Dörfer gehalten«, fuhr er fort. »Die Menschen haben die Gaben angenommen, die die fremden Götter gebracht haben, welche zusammen mit dir und deiner Mutter zu uns gekommen sind, auch viele von uns hier, ja, selbst ich! Es hat lange gedauert, doch nun haben die Götter zu mir gesprochen, und ich habe die Wahrheit erkannt.«
»Welche Wahrheit?«, fragte Arri verächtlich. »Dass Sarn ein dummer alter Narr ist, der um seine Macht fürchtet?«
»Dass deine Mutter niemals in guter Absicht zu uns gekommen ist«, antwortete Nor ungerührt. Er wurde nicht wütend, sondern lächelte ganz im Gegenteil plötzlich. »Dass du es nicht glaubst, wundert mich nicht, mein Kind. Sie ist deine Mutter, und welches Kind würde wohl seine Mutter nicht verteidigen?« Er kam ihrem Protest zuvor, indem er fast sanft den Kopf schüttelte und mit deutlich milderer und - wie es schien - um Verständnis bittender Stimme fortfuhr: »Ich fürchte, es gibt nichts mehr, was ich noch für deine Mutter tun könnte. Sie hat ihre Seele den finsteren Göttern aus ihrer Heimat verschrieben, und schlimmer noch, sie hat sich mit unseren Feinden zusammengetan, um uns zu verderben.«
»Aber das ist doch nicht wahr!«, begehrte Arri auf. Unwillkürlich machte sie einen Schritt in Nors Richtung und hob die Arme, nicht um ihn anzugreifen, sondern einfach nur, um verzweifelt damit zu gestikulieren. Ihre beiden Bewacher schienen die Bewegung jedoch gründlich misszuverstehen, denn einer von ihnen riss sie grob an der Schulter zurück, während der andere ihr Handgelenk packte und Anstalten machte, ihr den Arm auf den Rücken zu drehen.
»Lasst sie los!«, sagte Nor scharf. Die beiden Männer, die Arri gepackt hatten, zögerten noch einen spürbaren Moment, dann aber ließ der eine ihre Schulter und einen Atemzug darauf der andere auch ihren Arm los. Arri machte einen taumelnden Schritt zur Seite, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, und rieb sich ihr Handgelenk. Es tat so weh, als hätte der Kerl mit der festen Absicht zugegriffen, ihr den Arm zu brechen.