»Du glaubst also immer noch nicht, dass deine Mutter unser Verderben im Sinn hat?«, fuhr Nor fort. Arri hütete sich, darauf zu antworten. Nor seufzte. Ein Ausdruck von Trauer huschte über sein Gesicht, gerade schnell genug, dass jeder, der ihn sah, glauben musste, es sei gegen seinen Willen geschehen und er versuche seine wahren Gefühle und Absichten zu verbergen, damit niemand erkannte, wie Leid ihm das uneinsichtige Kind einer verderbten Mutter, das da vor ihm stand, in Wahrheit tat. Wenn schon nichts anderes, dachte Arri, so war Nor doch zumindest ein ausgezeichneter Schauspieler.
»Kron, warum erzählst du uns nicht, wie es dir und deinen Brüdern ergangen ist, als ihr die Fremden getroffen habt?«, fragte Nor.
Überrascht sah Arri zu dem einarmigen Jäger hin. Sie hatte sich schon gefragt, warum Nor auch ihn herbefohlen hatte, und sie hatte auch eine ungefähre Vorstellung gewonnen, aber mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.
Kron sah nur ganz kurz in ihre Richtung und beeilte sich dann, sich nicht nur direkt an den Hohepriester zu wenden, sondern auch mit schneller, hastiger Stimme zu antworten, wobei er im Prinzip dieselbe unsinnige Geschichte erzählte, die Grahl und er damals nach ihrer Rückkehr zum Besten gegeben hatten; dass sie harmlos und ohne böse Absichten auf eine Gruppe Fremder gestoßen wären, die sie gänzlich ohne Grund angegriffen, seinen Bruder getötet und ihn schwer verwundet hätten, nur dass er sie diesmal mit noch mehr blutrünstigen und vollkommen unglaubwürdigen Einzelheiten ausschmückte. Als er fertig war, hätte man glauben können, er ganz allein habe eine wilde Horde in die Flucht geschlagen und sie nur deshalb nicht endgültig besiegt, weil sie unlauter gekämpft hätten und in großer Überzahl über ihn hergefallen wären. Arri hatte die Geschichte ein wenig anders in Erinnerung, und selbst Nor, der dem Einarmigen zweifellos Wort für Wort vorgegeben hatte, musste sich sichtlich beherrschen, um ihn gegen Ende nicht rüde zu unterbrechen. Anscheinend tat Kron entschieden zu viel des Guten. Die eine oder andere Heldentat, mit der er sich brüstete, hatte ihm Nor vielleicht doch nicht in solcher Ausführlichkeit vorgesagt. »Mein Bruder hat mich fast den ganzen Weg zurückgetragen«, schloss Kron. »Ohne ihn wäre auch ich jetzt nicht mehr am Leben.«
»Du wärst ohne meine Mutter jetzt nicht mehr am Leben!«, sagte Arri aufgebracht.
Kron sah einen Herzschlag lang in ihre Richtung und senkte dann betreten den Blick, aber Nor fragte: »Ist das war? Hat ihre Mutter auch dir geholfen?«
»Ha!«, mischte sich Sarn ein. »Geholfen?« Er sprang auf und gestikulierte erregt mit beiden Händen. »O ja, sie hat ihm das Leben gerettet. Wie Achk war auch er mehr tot als lebendig, als Grahl ihn zurückbrachte. Sein Arm war brandig, und das Gift aus der Wunde hatte schon begonnen, seinen Körper zu verseuchen.«
Er fuhr mit einer so plötzlichen Bewegung auf dem Absatz herum und in Arris Richtung, dass sie erschrocken zusammenzuckte. »Geholfen hat deine Mutter diesem armen Mann?« Er fuchtelte jetzt noch aufgeregter mit den Armen, wobei er abwechselnd auf Kron und Arri deutete, und seine Stimme wurde schrill. »Zum Krüppel gemacht hat sie ihn! Den Arm abgeschnitten hat sie ihm, sodass er nicht mehr als Jäger ausziehen und seinen Lebensunterhalt verdienen kann!«
»Aber... aber er wäre gestorben, wenn sie das nicht getan hätte!«, protestierte Arri. »Das wisst ihr doch ganz genau!«
»Ja, vielleicht«, antwortete Nor an Sarns Stelle, »und vielleicht war es der Wille der Götter, dass er stirbt. Es liegt keine Schande darin, im Kampf gegen einen heimtückischen und übermächtigen Feind sein Leben zu geben. Krons Familie und Freunde hätten sein Andenken in Ehren bewahrt, und wir hätten seine Heldentaten in Liedern besungen und unseren Kindern und Kindeskindern davon erzählt. Aber deine Mutter hat ihm den Arm genommen und ihn zum Krüppel gemacht, so wie sie auch Achk zum Krüppel gemacht hat. Zwei Männer, die nicht mehr arbeiten können und den Ihren nur zur Last fallen.«
»Aber das... das ist doch... das ist doch nicht wahr!«, stammelte Arri. Das unwillige Murren und Erstaunen hinter ihr wurde noch lauter, und auch der monotone Singsang der Priester veränderte sich abermals und schien nun selbst ihrem Herzschlag seinen düsteren Takt aufzuzwingen. Verzweiflung machte sich in Arri breit. Sie wusste genau, worauf Nor hinauswollte. Sein Plan war so durchsichtig, dass es schon fast lächerlich war. Aber wie kam es dann, dass sie so vollkommen hilflos dagegen war? Wie konnte es sein, dass Nor alles, was sie sagte und tat, irgendwie ins Gegenteil verkehrte und gegen sie verwendete?
»Du leugnest es also immer noch«, sagte Nor. »Und du willst auch nicht zugeben, das deine Mutter mit den Fremden gesehen worden ist, die über die Berge im Osten kommen und uns alle bedrohen?«
»Sie ist...«, begann Arri, brach aber dann mitten im Satz ab und biss sich auf die Unterlippe. Sie wollte es nicht, aber ihr Blick löste sich für einen Moment von Nors Gesicht und glitt zu Rahn hin. Wie viel hatte er Sarn und Nor erzählt? Wussten sie von Dragosz, und wenn ja, was?
»Vielleicht war dies der Plan deiner Mutter, mein Kind«, fuhr Nor fort. »Ich will nicht bestreiten, dass sie uns allen Wohlstand und Reichtum gebracht hat, dass die Menschen zufriedener und glücklicher sind, seit sie bei uns ist. Doch vielleicht war das das Schlimmste ihrer Geschenke. Unsere Krieger sind schwach geworden. Unsere Aufmerksamkeit hat nachgelassen. Unsere Männer sind müde und ihre Weiber satt und zufrieden. Es war der Plan deiner Mutter, genau das zu erreichen. Wenn die fremden Krieger aus dem Osten kommen, dann werden sie leichtes Spiel mit uns haben. Noch ein weiterer Sommer wie der letzte, und unsere Krieger werden verlernt haben, wie man kämpft. Niemand wird mehr in der Lage sein, unsere Frauen und Kinder zu beschützen und um unser Land zu kämpfen, wenn die Feinde kommen, um es uns wegzunehmen. War es das, was deine Mutter wollte?«
»Nein!«, protestierte Arri. Sie konnte selbst hören, wie ihre Stimme zitterte und wie dicht sie davor stand, einfach in Tränen auszubrechen. Es waren Tränen der Wut und der Fassungslosigkeit, nicht der Furcht, aber das spielte für Nor keine Rolle. Wichtig war, dass alle anderen hier hörten, wie ihre Stimme zitterte.
»Ja, deine Mutter hat vielen von uns das Leben gerettet«, fuhr Nor fort. »Doch die Götter haben mir die Augen geöffnet und es mir ermöglicht, ihren Plan zu durchschauen.« Er hob seinen Stock und wies damit anklagend zuerst auf Achk, dann auf den einarmigen Jäger. »Es sind Männer wie sie, aus denen euer Volk nun zu einem Gutteil besteht. Krüppel und Kranke!«
Nicht nur Arri zog bei diesen Worten überrascht die Augenbrauen zusammen. Auch Kron wirkte im allerersten Moment irritiert und schien nicht wirklich zu verstehen, was Nor da gerade gesagt hatte, während Achk wie unter einem Peitschenhieb zusammenfuhr und dann hilfloser denn je aussah.
»Ja, euer Dorf erlebt eine Zeit der Blüte und des Wohlergehens«, fuhr Nor fort, nun wieder mit erhobener, fast beschwörender Stimme. »Unser Volk ist so zahlreich und wohlgenährt wie nie, aber was ist das für ein Volk? Die Götter haben uns erschaffen, damit wir stark sind, um uns die Welt Untertan machen und unsere Feinde zerschmettern zu können. Das Leben, das sie uns gegeben haben, ist voller Gefahren und hart, doch das ist auch gut so, denn nur so können wir stark genug sein, um zu überleben. Unser Volk war einst mächtig, und unsere Krieger überall gefürchtet. Und was sind wir heute, nur wenige Sommer, nachdem deine Mutter mit ihren falschen Gaben zu uns kam? Wer von unseren Feinden zittert heute noch vor uns?« Er stampfte mit seinem Stock auf. »Keiner! Unser Volk mag zahlreich sein wie nie, doch wir sind keine Krieger mehr, und unsere Feinde lachen über uns. Was sind das für Leben, die deine Mutter uns geschenkt hat? Die Schwachen und Kranken, von den Göttern dazu bestimmt, zu sterben! Die Krüppel und Hilflosen, die von der Arbeit der anderen leben und selbst nichts zum Wohl der Gemeinschaft beitragen können. Nur so wenige Sommer haben gereicht, um aus einem stolzen Volk leichte Beute für jeden zu machen, der es sich nehmen will.«