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»Ihr wisst, dass das nicht stimmt«, sagte Arri, nun mit sehr leiser, aber auch sehr fester Stimme.

»Nein?«, wiederholte Nor lauernd. »Dann ist es nicht wahr, dass es deiner Mutter nicht gereicht hat, diese beiden tapferen Männer zu verkrüppeln?« Er wies wieder mit dem Stock auf Achk und den Jäger. »Nein, sie musste ihnen auch noch ihren Stolz nehmen und sie und damit uns alle zum Gespött unserer Nachbarn machen!«

»Aber wieso denn?«

»Ein Blinder und ein Einarmiger!«, antwortete Nor, verächtlich und laut. »Sie will aus zwei halben Männern wieder einen ganzen machen, der noch dazu die wichtigste Arbeit verrichten soll, die es gibt?« Er lachte böse. »Und während all dieser Zeit kommen die Feinde näher. Sei endlich vernünftig, Kind. Ich bin für meine Großmut und Gnade bekannt, doch auch ich stehe nicht über dem Willen der Götter. Ich kann mit ihnen sprechen und um dein Leben bitten, doch nur, wenn du dich von den falschen Göttern lossagst, die deine Mutter in dein Herz gepflanzt hat, und ihrer schwarzen Kunst abschwörst!«

Aber wie sollte sie denn Göttern abschwören, an die sie gar nicht glaubte?

Um ein Haar hätte Arri diese Antwort laut ausgesprochen, aber sie beherrschte sich im letzten Moment. Wahrscheinlich machte es keinen Unterschied, und doch wollte sie Nor zumindest nicht die Genugtuung geben, ihm auch noch in die Hände zu spielen.

Und - wer weiß? Vielleicht gab es die Götter ja doch. Dass Arri nicht an sie glaubte, bedeutete nicht, dass sie die Möglichkeit ihrer Existenz vollkommen ausgeschlossen hätte. Vielleicht war ja alles, was jetzt geschah, die Strafe dafür, dass sie sie so lange geleugnet hatte.

»Also gut«, seufzte Nor, als sie immer mehr Zeit verstreichen ließ, ohne auf seine Worte zu reagieren. Er schüttelte müde den Kopf. »Ich habe getan, was die Barmherzigkeit und das Verständnis mit einem Kind, das nicht weiß, was es tut, von mir verlangen. Jetzt...«

»Tötet sie!«, unterbrach ihn Sarn.

Nor runzelte verärgert die Stirn, und Arri war ihm nahe genug, um zu erkennen, dass dieser Ärger nicht gespielt war. Sarns Ausbruch gehörte nicht zu dem sorgsam abgesprochenen Verlauf dieser so genannten Verhandlung. Er ärgerte den Hohepriester; er ärgerte ihn sogar über die Maßen. »Schweig!«, sagte er scharf. »Die Götter werden entscheiden, was weiter mit ihr geschieht.«

Sarn schwieg nicht. Ganz im Gegenteil wandte er sich nunmehr ganz dem Hohepriester zu, und in seinen Augen blitzte es kampflustig.

»Waren sie denn nicht deutlich genug?«, fragte er herausfordernd. »Wir haben ihren Unmut erregt! Wir alle! Unser ganzes Dorf, ich, Ihr, jeder hier! Die Götter sind erzürnt, weil wir uns von ihnen abgewandt haben, und sie verlangen nach Blut wie in den alten Zeiten!«

Nors Lippen wurden schmal. Einen Moment lang war Arri fast sicher, dass er Sarn nun scharf in seine Schranken verweisen würde, doch er schüttelte nur leicht den Kopf, machte einen halben Schritt rückwärts und ergriff seinen Stab fester. »Dann werden wir die Götter fragen, was ihr Wille ist.«

Sarn setzte abermals dazu an zu widersprechen, doch Nor fuhr rasch und mit nun deutlich erhobener Stimme fort: »Du hast Recht, Sarn. Es hieße, vorschnell zu handeln und die Götter vielleicht noch mehr zu erzürnen, würde ich mir anmaßen, ihren Willen zu deuten, nur um das Leben eines unschuldigen Kindes zu retten, das mein Herz berührt hat.«

»Sind die Zeichen denn nicht deutlich genug?«, erwiderte Sarn verächtlich. Das kampflustige Funkeln in seinen Augen hatte nicht nachgelassen; ganz im Gegenteil. »Sie sind erzürnt, und es war seit jeher stets das Blut derer, die sich gegen sie vergangen haben, das einzig diesen Zorn besänftigen konnte!«

Nor lächelte plötzlich, doch obwohl Arri sein Gesicht nur im Profil erkennen konnte, sah sie doch, dass in diesem Lächeln etwas war, das es ins genaue Gegenteil verkehrte. Sarn starrte noch immer trotzig zu ihm hoch, aber das herausfordernde Funkeln in seinen Augen erlosch, und nur einen Augenblick später konnte Arri regelrecht sehen, wie jede Kraft aus ihm zu weichen schien. Auch er machte einen halben Schritt zurück. Seine Schultern sanken kraftlos herab, und dann gelang es ihm nicht einmal mehr, Nors Blick standzuhalten. »Ganz, wie Ihr es sagt, Hohepriester.«

Nor schüttelte, immer noch auf diese sonderbar kalte, Unheil versprechende Art lächelnd, den Kopf. »Nicht, was ich sage, ist wichtig. Heute Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht, werden wir ins Heiligtum hinaufgehen und den Rat der Götter einholen.«

»Aber es ist noch nicht...«, begann Sarn.

»Es ist nicht an der Zeit, sie anzurufen«, sagte Nor mit kalter, keinen Widerspruch duldender Stimme. »Das weiß ich sehr wohl. Wir haben ihnen nicht geopfert, und die Zeit reicht auch nicht, ein Opfer vorzubereiten, wie es sich gehört. Und dennoch bin ich sicher, dass sie unserer Bitte um Erleuchtung nachkommen werden. Jedermann soll es sehen.« Er hob seinen Stock, als wäre das tatsächlich noch nötig, um sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher zu sein. »Ich will, dass jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, die in der Lage sind zu gehen, dabei sind. Du und ich, Sarn, wir werden die Götter gemeinsam anrufen, und es wird sich entscheiden, wer von uns im Recht ist.«

Sarn wirkte regelrecht erschüttert. Arri wusste nicht, was er mit seiner Herausforderung überhaupt beabsichtigt hatte - Gerüchte, dass Sarn Nor seine Stellung als Hohepriester von Goseg neidete und nur zu gern seinen Platz eingenommen hätte, gab es schon lange. Wenn dieser ungeplante Auftritt eine Kraftprobe zwischen ihm und Nor sein sollte, dann hatte er sich nicht nur den denkbar ungünstigsten Moment dazu herausgesucht; Nors Reaktion war offensichtlich vollkommen anders, als er erwartet hatte. Er wirkte verstört. Und auch deutlich erschrocken. Aber schließlich senkte er demütig das Haupt und trat einen weiteren Schritt zurück.

»So sei es«, sagte er.

30

Die beiden Männer, die sie ins Langhaus begleitet hatten, führten sie auch wieder zurück in ihr Gefängnis. Der Weg aus dem Haus hinaus ins Freie wurde zu etwas wie einem Spottlauf, bei dem jemand, dem boshaftes Verhalten gegenüber der Gemeinschaft vorgeworfen wurde, unter Schimpf und Schande durch die Nachbarschaft gejagt wurde. Arri konnte sich hinterher dennoch nur noch verschwommen an das erinnern, was sie bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie in ihrem Heimdorf Zeugin eines Spottlaufs gewesen war, als so überaus schrecklich und demütigend empfunden hatte, und das ihr jetzt zum ersten Mal selbst widerfuhr. Es war wie ein Fiebertraum, schlimm, aber überwunden und nichts, was sie wirklich erschrecken konnte. Sie erinnerte sich an die hasserfüllten Blicke der Menschen, an Beschimpfungen und Flüche, die ihr zugerufen wurden, und auch an die eine oder andere vorwitzige Hand, die nach ihr zu schlagen versuchte, auch wenn ihre beiden Bewacher diese Versuche schnell und brutal im Keim erstickten.

Auch auf dem Weg zurück über den Hügel und wieder in die versteinerte Stadt besann sie sich kaum. Erst, als sie wieder in ihr Gefängnis geführt wurde, als die Tür mit einem dumpfen Laut hinter ihr zuschlug und sie wieder in das vertraute Halbdunkel hineintrat, in dem sie die zurückliegenden Tage verbracht hatte und das mit einem Mal nichts Erschreckendes mehr zu haben schien, sondern ganz im Gegenteil fast zu einem Freund geworden war, hatte sie das Gefühl, wieder denken zu können; fast als hätte die Zeit für einen Moment angehalten.

Was war das gewesen? Arris Herz klopfte. Ihre Hände und Knie zitterten so stark, dass sie sich gegen die Wand lehnen und einen Moment später zu Boden sinken lassen musste, und dennoch war sie weit mehr durcheinander als wirklich verängstigt. Nichts von alledem, was sie gerade erlebt hatte, erschien irgendeinen Sinn zu ergeben! Wenn es ihr Tod war, den Nor wollte, dann hätte er sich wahrlich nicht die Mühe machen müssen, das ganze Dorf zusammenzurufen, um seinen Untertanen ein so sorgsam einstudiertes Stück vorzuspielen. Er hätte ihn einfach befehlen können, ohne einen Grund, ohne dass irgendjemand eine Frage gestellt oder ihr auch nur eine Träne nachgeweint hätte. Lange, endlos lange, kreisten Arris Gedanken um diese eine Frage, und auch wenn sie keine Antwort darauf fand, so spürte sie doch tief in sich, dass Nor einen Grund für all das gehabt hatte und dass dieser Grund Anlass genug für sie war, sich noch größere Sorgen zu machen.