Выбрать главу

Warum hatte ihre Mutter sie nur im Stich gelassen? Warum kam sie nicht endlich, um sie zu retten?

Arris Gedanken kehrten erst in die Wirklichkeit zurück, als sie das Scharren des Riegels hörte. Mit einem Ruck hob sie den Kopf und kniff gleich darauf geblendet die Augen zusammen, als die Tür geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, die sie im ersten Augenblick nur als Schatten erkennen konnte. Erst als die schwere Holztür das Sonnenlicht wieder aussperrte, sah sie, dass es nicht ihre Bewacher waren, die ihr etwas zu essen oder Wasser brachten, sondern Rahn.

Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Welch ein überraschender Besuch«, sagte sie böse. »Hat Nor dich geschickt, um mich noch ein bisschen auszuhorchen?«

Sie war selbst ein wenig überrascht über den nicht nur festen, sondern auch eindeutig herausfordernden Ton ihrer Stimme, aber Rahn schüttelte nur ärgerlich den Kopf und antwortete scharf: »Nor weiß nicht, dass ich hier bin. Er wäre wahrscheinlich auch nicht besonders begeistert, würde er es erfahren. Wenn du dich also für irgendetwas an mir rächen willst, dann brauchst du es ihm nur zu sagen. Er ist bereits auf dem Weg hierher, nehme ich an.«

»Warum bist du dann gekommen?« Arris Stimme klang jetzt schon nicht mehr ganz so fest und hatte jede Spur von Herausforderung verloren. Da war etwas in Rahns Worten, was ihr Angst machte.

»Um dich zu warnen und dich vielleicht doch noch zur Vernunft zu bringen«, antwortete Rahn. »Nor meint es ernst. Hast du das immer noch nicht begriffen?«

»Womit? Damit, dass er sich Sorgen um mein Wohlergehen macht?« Arri schnaubte abfällig. »Mach dich nicht lächerlich!«

»Dein Wohlergehen ist Nor ebenso gleichgültig wie das eines jeden anderen hier«, antwortete Rahn. »Er braucht dich, begreifst du das denn nicht?«

»Mich?« Arri riss ungläubig die Augen auf.

»Viel mehr noch als dich brauchte er deine Mutter, ihr Zauberschwert und vor allem ihr geheimes Wissen«, sagte Rahn. »Doch wenn er sie nicht bekommen kann, dann wird er sich auch mit dir zufrieden geben.« Er machte eine heftige Geste, die Arri im Halbdunkel der Kammer mehr erahnte als wirklich sah. »Wenn du am Leben bleiben willst, Arri, dann wirst du tun, was er von dir verlangt!«

»Und was wäre das?«, gab Arri zurück.

»Schwöre deinen Göttern ab!«, antwortete Rahn. »Sag dich von ihnen los und von der schwarzen Zauberkunst deiner Mutter. Liefere dich Nors Gnade aus und lass zu, dass dich Jamu zur Frau nimmt, dann wirst du am Leben bleiben.«

Arri ächzte. »Jamu! Du weißt nicht, was du da redest!«

»Ich fürchte, es ist genau umgekehrt, und du weißt nicht, wovon ich spreche.« Rahns Stimme wurde fast beschwörend.

»Das ist jetzt kein Spiel mehr, Arri. Es geht um dein Leben. Begreift das endlich!«

»Ein Leben als... Jamus Weib?« Arri schüttelte heftig den Kopf und versuchte, einen spöttischen Unterton in ihre Stimme zu legen. Es blieb bei dem Versuch. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist: der Tod oder die Vorstellung, mein Lager mit diesem... Dummkopf zu teilen.«

»Du hast Recht«, sagte Rahn. »Jamu ist ein Dummkopf. Er ist brutal, und er wird dich schlagen und schlecht behandeln und erniedrigen, wo immer er kann. Aber du wirst leben, und später...« Er deutete ein Achselzucken an. »Wir werden sehen.«

Arri war nun endgültig verwirrt. War Rahn nur gekommen, um sie zu verhöhnen? »Was werden wir sehen?«, erkundigte sie sich misstrauisch.

Rahn warf einen raschen Blick über die Schulter zurück zur Tür, bevor er antwortete. »Ich frage mich, ob deine Mutter dich wirklich die richtigen Dinge gelehrt hat. Für meinen Geschmack bist du noch ein bisschen zu jung, um so viel und so leichtfertig vom Sterben zu reden. Du weißt nicht wirklich, was es bedeutet, oder?«

Arri musste an einen finsteren Stollen unter einem Haus am anderen Ende der Welt denken, und für einen Moment sah sie noch einmal das Gesicht eines dunkelhaarigen Mädchens vor sich, und das abgrundtiefe Entsetzen in ihren Augen, als sie begriff, dass es vorbei war. Und er glaubte, sie wüsste nicht, wovon sie sprach? Sie sagte nichts.

»Dein Leben hat gerade erst begonnen, Arianrhod«, sagte Rahn leise.

»Lass mich raten«, sagte Arri. »Und du würdest es nur zu gern mit mir teilen, wie?« Sie machte eine flatternde Handbewegung. »Und nicht nur mein Leben, nehme ich an, sondern auch mein Lager, meinen Körper und die eine oder andere Kleinigkeit, die ich vielleicht von meiner Mutter gelernt habe?«

Sie bedauerte die Worte schon, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte, denn obwohl sie Rahns Gesicht nicht deutlich erkennen konnte, spürte sie doch, wie hart sie ihn trafen.

»Manchmal frage ich mich, ob Sarn nicht vielleicht Recht hat«, antwortete er spröde.

»Womit?«

»Sarn hält dich für ein vorlautes dummes Ding. Und manchmal benimmst du dich auch so.« Rahn schüttelte den Kopf. »Du solltest dich nicht überschätzen, Arianrhod.«

»Oh, du erinnerst dich sogar an meinen Namen«, sagte Arri spöttisch. Es klang selbst in ihren eigenen Ohren dumm und verzweifelt, aber sie konnte nicht anders, als fortzufahren: »Hat meine Mutter ihn dir verraten, oder hast du ihn herausgefunden, während du für Sarn spioniert hast? Oder war es für Nor - oder am Ende vielleicht für beide?«

Rahn ging nicht auf diese Herausforderung ein, wofür ihm Arri im Stillen dankbar war. »Ich habe getan, was ich Lea versprochen habe. Was jetzt geschieht, ist allein deine Entscheidung. Nur solltest du bedenken, dass es bestimmt nicht der Wille deiner Mutter wäre, dass du dein Leben wegwirfst, bloß weil dein Stolz größer ist als deine Vernunft.«

»Was soll das heißen?«, fuhr Arri auf. »Was hast du meiner Mutter versprochen?«

»Dich zu beschützen«, antwortete Rahn.

»Mich zu... beschützen?«, vergewisserte sich Arri. »Du hast eine sonderbare Art, das zu tun, meinst du nicht selbst?«

»Vielleicht habe ich deinen Spott verdient«, sagte Rahn ungerührt. »Aber mehr kann ich im Moment nicht für dich tun. Nor wird gleich hier sein, um dir eine einzige Frage zu stellen. Überlege dir deine Antwort gut. Jamu ist vielleicht nicht der Mann, den sich deine Mutter für dich gewünscht hätte. Aber ein Leben an seiner Seite ist allemal besser als der Tod, meinst du nicht auch?«

Was das anging, war Arri nicht einmal sicher. Immerhin war Jamu letzten Endes der Grund gewesen, aus dem ihre Mutter entschieden hatte, das Dorf zu verlassen. Sie wusste jedoch, was Rahn wirklich meinte, und so verrückt es ihr selbst vorkam - tief in sich spürte sie, dass seine Worte ehrlich gemeint waren; genauso ehrlich wie die Sorge um sie, die er empfand.

»Wie kann ich dir trauen, Rahn?«, fragte sie. »Ich weiß ja noch nicht einmal, wer du wirklich bist. Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Auf Sarns? Oder Nors? Oder unserer?«

»Nur auf meiner«, antwortete Rahn abfällig, »so wie jedermann am Ende nur auf seiner eigenen Seite steht.«

»Und trotzdem soll ich dir glauben, dass du nicht nur Sarn, sondern auch den Herrn von Goseg verrätst, um mir zu helfen?«