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Anders als am Morgen stand das Tor im Palisadenzaun jetzt weit offen, und auch der Weg dahinter war nicht mehr leer. Als Arri und ihre Begleiter die versteinerte Stadt (die im Übrigen noch immer wie ausgestorben dalag) verließen, wurden sie von gut zwei oder drei Dutzend Menschen erwartet, Männer, Frauen und Kinder, von denen sie einige wieder zu erkennen glaubte, die sie am Morgen im Haus gesehen hatte und die mit einer Mischung aus Neugier und Scheu zu ihr hinsahen. Doch so wie bei den Kriegern spürte sie auch bei ihnen eine Veränderung. Noch am Morgen war es unverhohlene Feindseligkeit und Hass gewesen, der ihr entgegenschlug, jetzt war es... etwas anderes. Arri konnte nicht sagen, was. Was sie spürte, war alles andere als Freundlichkeit, aber auch nicht mehr dieser blanke Zorn. Da war eine Scheu, die es bisher nicht gegeben hatte und die sie im ersten Moment verwirrte, dann erschreckte, wie es der Ausdruck von Mitleid in den Augen des Mannes heute Morgen getan hatte. Irgendetwas war geschehen, während sie vergeblich auf den Hohepriester gewartet hatte.

Die Menge folgte ihnen, als sie sich nach links wandten und den Hügel in Richtung des Heiligtums hinaufstiegen, und obwohl keinerlei Bedrohung oder Feindseligkeit mehr von ihr ausging, schlossen sich ihre vier Bewacher ein wenig enger um sie zusammen, und die Hände der Männer senkten sich auf ihre Waffen. Plötzlich war eine spürbare Spannung da, aber Arri begriff auch, dass sie nichts mit ihr zu tun hatte. Die Männer waren unruhig, aber aus einem Grund, der ihr unbekannt blieb.

Jetzt, im hellen Licht des Tages betrachtet, hatte das Heiligtum oben auf der Hügelkuppe seine unheimliche Ausstrahlung verloren. Es wirkte immer noch beeindruckend, aber nur noch durch seine schiere Größe; Arri konnte sich nicht erinnern, jemals ein von Menschenhand geschaffenes Gebilde solchen Ausmaßes gesehen zu haben. Darüber hinaus war die Hügelkuppe nicht mehr leer wie am Morgen, denn die Einwohner des Dorfes hatten Nors Befehl Folge geleistet und sich außer- aber auch innerhalb des Heiligtums versammelt. Ihre Anzahl überraschte Arri. So groß das Langhaus unten auch sein mochte, war es doch letzten Endes nur ein einzelnes Haus. Die Menge, die Arri nun erblickte, hätte unmöglich darin Platz gefunden, ganz gleich, wie sehr sich die Menschen auch zusammengedrängt hätten. Heute Morgen waren entweder nicht alle Dorfbewohner da gewesen, oder Nor hatte Boten in die umliegenden Dörfer geschickt, um noch mehr Zuschauer herbeizurufen.

Auch die Menschen hier benahmen sich... seltsam, dachte Arri verstört. Wie am Morgen wichen sie nur zögernd zur Seite und bildeten eine Gasse, die gerade breit genug für sie und ihre Bewacher war, was aber einfach nur an ihrer großen Anzahl lag. Was Arri jetzt in den meisten Gesichtern las, das war zum allergrößten Teil nur noch Neugier und vielleicht eine gewisse Anspannung, aber kaum noch Feindseligkeit. Was war hier geschehen?

Sie verscheuchte den Gedanken - nur ein weiteres Rätsel, das sie vielleicht nie lösen würde, und im Grunde wollte sie es auch gar nicht, denn die allermeisten Rätsel, auf die sie bisher gestoßen war, hatten sich am Schluss als ziemlich unangenehme Überraschungen entpuppt - und versuchte stattdessen, sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, als sie einen der Durchlässe in dem riesigen Palisadenzaun durchschritten. Das Innere von Goseg entpuppte sich jedoch als ebenso große Enttäuschung wie sein Äußeres, wenn nicht als noch größere. Es existierte praktisch nicht. Der gewaltige Zaun aus zugespitzten Baumstämmen umschloss nichts anderes als einen runden Platz, der bis auf einen eher bescheiden wirkenden steinernen Altar in seiner Mitte vollkommen leer war. Das Innere des Heiligtums wirkte so schmucklos und einfach, dass Arri im ersten Moment regelrecht verwirrt war. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte - im Grunde gar nichts, zumindest hatte sie keinerlei feste Vorstellung gehabt -, doch das Heiligtum von Goseg war überall im Lande berühmt, und so hatte sie ganz unwillkürlich angenommen, mit etwas Großem und Beeindruckendem und wahrscheinlich sogar Furchteinflößendem konfrontiert zu werden - und ganz gewiss nicht mit einem Kreis aus Baumstämmen, der es an Größe nicht einmal mit einem mittleren Dorf aufnehmen konnte.

Die Anlage war nicht einmal besonders kunstfertig erbaut. Die einzelnen Stämme waren zwar präzise ausgerichtet und von ihrer Rinde befreit und allesamt von exakt gleicher Größe und gleichem Durchmesser, dafür aber eher schlampig mit dicken Tauen zusammengebunden, und hier und da entdeckte Arri auch einen Stützpfeiler, der sich von innen schräg gegen die hölzerne Wand lehnte, wie um sie am Umfallen zu hindern. In einigen wenigen der näher gelegenen Stämme entdeckte sie grobe Schnitzereien, die meisten aber waren unberührt, und man sah ihnen an, dass sie Wind und Wetter und dem Eis und Schnee des Winters seit vielen Jahren ungeschützt ausgeliefert gewesen waren.

Und das sollte ein Heiligtum sein?, fragte sich Arri verwirrt. Wenn ja, welche Götter beteten Nor und seine Priester dann hier an? Die Götter des verfaulenden Holzes oder der Borkenkäfer und Holzwürmer?

Einer ihrer Begleiter bedeutete ihr mit einer unruhigen Geste weiterzugehen, und Arri beeilte sich, dem Befehl nachzukommen. Nor, Sarn und eine überraschend große Anzahl weiterer Priester und Schamanen, die Arri an ihrer bunten Kleidung und dem farbenfrohen Kopfschmuck erkannte, befanden sich in der Nähe des Altarsteines. Sie erkannte auch Rahn bei ihnen, und auf den zweiten Blick zu ihrer Überraschung (und Beunruhigung) auch Kron und den blinden Schmied. Zwei brennende Fackeln waren rechts und links des Altars in den weichen Boden gerammt worden, und eine Anzahl junger Frauen in gleichartigen, für die kalte Witterung aber viel zu dünnen Kleidern trugen emsig Feuerholz und Schalen mit Obst, Fleisch und anderen Opfergaben herbei, die sie ebenfalls beiderseits des Altarsteines abstellten, bevor sie sich mit gesenkten Häuptern und rückwärts gehend wieder entfernten.

Arri war nicht die Einzige, die das Geschehen ebenso neugierig wie mit Staunen verfolgte. Nahezu jeder, der zusammen mit ihr und ihren Bewachern oder auch durch einen der anderen Zugänge hier hereingekommen war, stand mehr oder weniger hilflos da und blickte entweder Nor und die anderen Priester oder den Altar oder auch die riesigen Wände aus zusammengebundenen Baumstämmen an, und endlich verstand Arri. Was sie auf den Gesichtern all dieser Menschen las, das waren nicht nur Neugier und Ehrfurcht, sondern auch Scheu und Erstaunen und hier und da vielleicht doch so etwas wie Verwirrung oder angedeutete Enttäuschung. All diesen Menschen hier, das begriff sie plötzlich, war das Innere des Heiligtums ebenso fremd und unbekannt wie ihr. Nach dem, was Nor heute Morgen gesagt hatte, war sie einfach davon ausgegangen, dass er seine Untertanen oft hier zusammenrief, um gemeinsam mit ihnen zu beten und den Göttern zu opfern, doch das schien nicht zu stimmen.

Obwohl es unmöglich war, dass Nor und die anderen Schamanen ihre Annäherung nicht bemerkt hatten, wandte sich der Hohepriester erst zu ihr um, als sie den Altarstein in der Mitte des Platzes erreicht hatte und stehen geblieben war, und auch dann erst, nachdem er noch eine geraume Weile hatte verstreichen lassen. Der Blick, mit dem er Arri maß, war ebenso kühl wie abschätzend; Arri entdeckte nicht die geringste Spur von Mitleid darin, oder auch nur das allerkleinste all jener Gefühle, die er zuvor angeblich für sie empfunden hatte. »Ah«, begann er mit schlecht geschauspielerter Überraschung. »Arianrhod. Es ist wohl an der Zeit.«

Augenblicklich wurde es still, denn auch die anderen Priester unterbrachen ihre Gespräche. Das aufgeregte Murmeln und Wispern der Menschen ringsum verstummte nach und nach, als sich die Stille auf dem großen Platz ausbreitete wie eine kreisförmige Welle, die ein ins Wasser geworfener Stein verursachte. Nor wartete mit erstaunlicher Geduld, bis es so ruhig geworden war, wie es Arri angesichts einer so großen Menschenmenge nur möglich schien, dann hob er betont langsam den Kopf und sah aus zusammengekniffenen Augen in den Himmel hinauf. Obwohl er direkt in die grelle Sonnenscheibe blickte, blinzelte er nicht ein einziges Mal. »Es ist an der Zeit«, sagte er, noch einmal und jetzt hörbar lauter. »Lasst uns beginnen.«