»Ich halte es immer noch für Zeitverschwendung«, protestierte Sarn. Er streifte Arri mit einem kurzen, verächtlichen Blick, stockte aber nicht einmal in der Bewegung, sondern wandte sich langsam und mit eindeutig herausfordernder Miene ganz zu Nor um. »Während wir hier stehen und unsere Zeit verschwenden und die Geduld der Götter vielleicht übermäßig strapazieren, ist ihre Mutter zweifellos schon auf dem Weg zu unseren Feinden, um zusammen mit ihnen unseren Untergang zu planen.«
Nicht nur Arri war überrascht, als sie den scharfen, eindeutig herausfordernden Ton in Sarns Stimme vernahm und den dazu passenden Ausdruck auf seinem faltigen Gesicht erblickte. Auch Nor runzelte verwirrt die Stirn, bevor er sich wieder fing und - gefährlich leise - fragte: »Willst du meinen Entschluss in Zweifel ziehen, Sarn? Muss ich dich erinnern, wer ich bin und wer du bist?«
Sarn schüttelte heftig den Kopf. Er wirkte unruhig, aber nicht ängstlich. »Nein! Ihr seid der Hohepriester und der Herr von Goseg, Nor. Aber Ihr seid auch ein Mensch, und Ihr seid für Eure Güte und Barmherzigkeit überall im Land bekannt.«
Arri hätte laut aufgelacht, wären ihr Sarns Worte nicht gleichzeitig so völlig aberwitzig vorgekommen, dass sie ihr wortwörtlich die Sprache verschlugen - und hätte sie nicht gespürt, wie die Spannung zwischen den beiden ungleichen Männern plötzlich eine vollkommen andere, gefährlichere Qualität annahm. Dass Sarn Nor so offen widersprach, war an sich schon ungewöhnlich genug - und für den greisen Schamanen sicherlich nicht ganz ohne Gefahr. Aber da war noch mehr. Was sie in Sarns Stimme hörte und auf seinem Gesicht las, das waren nicht einfach nur Trotz oder Ärger darüber, dass Nor sie nicht auf der Stelle hatte hinrichten lassen. Und plötzlich begriff sie, was hier wirklich vor sich ging. Sarn bot Nor nicht nur aus Verärgerung und gekränktem Stolz so offen die Stirn. Was sich da vor ihren Augen anbahnte, war nichts anderes als eine Machtprobe. Aber konnte Sarn tatsächlich so dumm sein, Nor ausgerechnet hier herauszufordern, im Zentrum seiner Macht und umgeben von all seinen Anhängern und Kriegern?
Verstohlen sah sie sich um, und es dauerte nur noch einen kurzen Moment, bis sie ihren Irrtum bemerkte.
Sarn war nicht allein gekommen. Abgesehen von Jamu und einem der beiden Krieger, die sie am Morgen ins Haus begleitet hatten, sah sie niemanden von Nors schwer bewaffneter Truppe, dafür aber ein paar andere, ihr nur allzu bekannte Gesichter. Zwei oder drei Männer aus ihrem heimatlichen Dorf, aber auch andere, die dann und wann zu Besuch gekommen waren, um zu tauschen oder einfach um ein Nachtlager zu bitten. Und es waren allesamt Männer, die sie auf die eine oder andere Weise mit Sarn in Verbindung brachte. Ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Selbst jetzt, wo sie es mit eigenen Augen sah, erschien ihr die bloße Vorstellung einfach nur widersinnig - und doch war sie plötzlich vollkommen sicher, dass Sarn mit der festen Absicht hierher gekommen war, den Hohepriester herauszufordern; und er war alles andere als unvorbereitet. Sie sah, wie auch auf Rahns Gesicht plötzlich ein angespannter, sehr aufmerksamer Ausdruck erschien, und fragte sich, wem seine Treue wohl gehören würde, sollte es tatsächlich zum Schlimmsten kommen.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Nor, noch immer ruhig, als hätte er noch nicht wirklich begriffen, was sich hier abspielte.
»Dass wir alle Euch ehren und schätzen, Nor«, antwortete Sarn und deutete ein demütiges Kopfnicken an. »Ihr seid es, zu dem die Götter sprechen und der über unser aller Sicherheit und Wohlergehen wacht. Aber nun geht es nicht mehr darum, um eine gute Ernte zu beten, oder dass die Götter uns einen milden Winter bescheren und unsere Herden von Raubtieren verschont bleiben.« Er deutete anklagend auf Arri. »Vielleicht hat der Anblick dieses unschuldigen Kindes Euer Herz gerührt, Nor. Ich glaube, dass es so ist, und es ehrt Euch. Aber ich kenne sie besser als Ihr. Sie und ihre Mutter leben seit mehr als zehn Sommern bei uns, und vom ersten Tag an waren sie wie eine schwärende Wunde im Fleisch, die unser aller Gedanken allmählich vergiftet hat. Sie ist nicht unschuldig. Sie ist so schlecht und verdorben wie ihre Mutter, und was Ihr zu spüren glaubt, das ist nicht die Seele eines unschuldigen Kindes, das ausgenutzt und fehlgeleitet wurde, sondern es sind ihre verdorbenen Zauberkräfte, die auch in ihr schon stark sind. Tötet sie! Tötet sie auf der Stelle, und dann schickt all Eure Krieger aus, um nach ihrer Mutter zu suchen und auch sie zu töten! In jedem Augenblick, den wir hier sinnlos vertun, rücken sie und unsere Feinde vielleicht schon näher!«
Hinter Arri erscholl der eine oder andere überraschte Ausruf, und nicht nur sie verwirrte es, dass Nor noch immer ruhig blieb, ja, sich im Stillen sogar über Sarns Worte zu amüsieren schien.
»Alles, was nötig ist, wurde bereits in die Wege geleitet«, antwortete er ruhig. »Ich habe die besten meiner Krieger ausgeschickt, um nach ihr zu suchen. Sie werden sie aufspüren und töten, und wir sind auch gewappnet, wenn die Feinde kommen. Falls sie kommen, Sarn.« Er hob rasch die Hand, als Sarn widersprechen wollte, und plötzlich wurde seine Stimme doch scharf; nicht einmal wirklich lauter, aber so schneidend wie die Klinge eines Schwertes. »Unser Volk ist stark, Sarn. Stark genug, um jedem Feind die Stirn zu bieten, der von außen kommt. Aber ich beginne mich zu fragen, ob unsere wahren Feinde vielleicht nicht von außen kommen, sondern aus unseren eigenen Reihen.«
Das war deutlich. Das unruhige Raunen ringsum wurde lauter, und Arri entging auch nicht die eine oder andere Hand, die zum Schwert glitt oder sich fester um einen Speer, einen Knüppel oder einen Axtstiel schloss. Sie unterdrückte den Impuls, sich hastig umzusehen, spannte sich aber innerlich. Wenn Sarn tatsächlich so dumm war, einen offenen Kampf zu riskieren, dann würde in diesem hölzernen Rund im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle losbrechen, und möglicherweise wäre das die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte.
»Ich bin nicht Euer Feind, Nor«, antwortete Sarn fast sanft. »Im Gegenteil. Ich achte und verehre Euch, wie jeder hier, doch ich sorge mich um unser Volk! Der Feind rüstet zum Krieg! Ihr könnt es nicht wissen, aber ich habe die Schlange gesehen, die wir seit so vielen Sommern in unserer Mitte geduldet haben!«
Nors Blick wurde noch kühler. »Was willst du damit sagen?«
Sarn senkte scheinbar ehrerbietig den Kopf, aber irgendwie gelang es ihm, selbst diese Geste herausfordernd wirken zu lassen. Arri spürte, wie die Spannung ringsum stieg. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sich etwas entladen wollte. »Vielleicht haben wir zu lange auf Euch gehört, Nor«, fuhr er fort, unbeschadet seiner demütigen Haltung und dem, was er gerade selbst gesagt hatte. »Ihr seid ein guter Herrscher, Nor. Ihr habt uns viele Sommer lang weise und erfolgreich geleitet, unseren Wohlstand gemehrt und über die Sicherheit unseres Volkes gewacht. Aber vielleicht seid Ihr ja jetzt schwach geworden.«
Diesmal war es kein unruhiges Raunen, das durch die Menschenmenge lief, sondern ein erschrockenes Zusammenfahren, als hielten all diese Leute wie auf einen unhörbaren, gemeinsamen Befehl hin gleichzeitig den Atem an. Arri konnte aber auch spüren, wie rings um sie herum eine verstohlene, dennoch aber sehr zielstrebige Bewegung einsetzte. Gingen die Männer, die Sarn mitgebracht hatte, in Position? Wurde sie nicht nur Zeuge einer Kraftprobe, sondern gar eines... Aufstandes?
Sie hoffte es fast. Wenn es tatsächlich zu einem Kampf käme, dann stünden ihre Aussichten gar nicht so schlecht, in dem allgemeinen Durcheinander zu entkommen. Arri hatte schmerzhaft lernen müssen, dass all die schmutzigen kleinen Listen und Finten, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, sie nicht wirklich in die Lage versetzten, einen erwachsenen Mann zu besiegen oder gar einen erfahrenen Krieger - aber in dem Durcheinander, das hier möglicherweise gleich losbrechen würde, hätte sie trotzdem eine Möglichkeit zu entkommen - und die eine oder andere böse Überraschung für jeden parat, der glaubte, leichtes Spiel mit ihr zu haben.