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»Ich bin also schwach geworden«, wiederholte Nor in fast nachdenklichem Ton. »Ist es das, was du sagen willst, Sarn? Sag... willst du meinen Platz?«

»Nicht schwach«, antwortete Sarn. »Aber weich. Ihr seid zu sanft, Nor. Euer Herz ist zu groß.« Er deutete erneut herausfordernd auf Arri, ballte die Hand dabei aber zur Faust. »Sie und ihre Mutter haben uns verraten. Sie haben uns dazu gebracht, unseren Glauben und unsere Sitten zu vergessen und uns neuen Dingen zuzuwenden, und die Götter sind zornig. Sie verlangen nach Blut!«

»Nun, dann sollten sie es auch bekommen«, sagte Nor.

Falls Sarn die kaum noch verhohlene Drohung in diesen Worten hörte, so überging er sie. »Die Götter haben zu mir gesprochen, und ich sage Euch, dass wir dieses Kind töten müssen. Auf der Stelle!«

»Das ist seltsam, Sarn«, erwiderte Nor, immer noch auf mittlerweile kaum noch verständliche Art ruhig. »Denn mir haben sie das nicht gesagt. Willst du mich einen Lügner nennen?«

»Nein«, antwortete Sarn. »Aber vielleicht habt Ihr sie nur nicht richtig verstanden. Manchmal ist es nicht leicht, die Worte der Götter zu deuten. Vielleicht haben Euch zu viele Jahre des Friedens und Wohlergehens weich werden lassen, Nor. Aber die friedlichen Jahre sind vorbei! Unser Volk braucht einen starken Herrscher.«

Arri sah Rahn an, der nur ein kleines Stück hinter dem Schamanen stand und nun wie durch Zufall zwei Schritte zur Seite trat und dabei unter seinen Umhang griff. Sie vermutete, dass er eine Waffe dort verborgen hatte, aber sie konnte immer noch nicht einschätzen, auf welcher Seite Rahn nun stand. Auch die Krieger, die sie hierher begleitet hatten, spannten sich offensichtlich, und Arri konnte erneut spüren, wie eine unsichtbare, einzeln nicht wahrnehmbare Bewegung durch die Menge der Zuschauer ging. Hier und da blitzte Metall auf.

»Mir ist schon vor einer geraumen Weile zu Ohren gekommen, dass du meine Worte in Zweifel ziehst und danach trachtest, an meine Stelle zu treten, Sarn«, sagte Nor. Er wirkte nicht wütend, sondern eher enttäuscht. »Aber ich wusste nicht, dass du so weit gehen würdest.« Für einen Moment schien er regelrecht in sich zusammenzusacken, als wiche mit einem Mal jede Kraft aus seinem Körper. Er stützte sich schwer auf seinen Stock und sah sich dann lange und aufmerksam und mit unübersehbarer Trauer auf dem Gesicht um. »Das hier ist heiliger Boden, Sarn. Noch nie wurde das Blut eines Menschen auf diesem Boden vergossen, wenn es denn nicht während einer Opferzeremonie geschah. Bist du wirklich bereit, die Männer, die du mitgebracht hast, an diesem Ort nach ihren Waffen greifen zu lassen?«

»Nicht, wenn es nicht sein muss«, antwortete Sarn. Er wirkte nun doch angespannt, auch wenn er sich alle Mühe gab, es zu verhehlen. »Es ist nicht Euer Blut, das ich will, Nor«, Sarn maß den um einen Kopf größeren Hohepriester dabei mit einem Blick, der das genaue Gegenteil auszusagen schien. »Wir alle verehren und schätzen Euch und achten Eure Macht und vor allem Eure Weisheit. Doch nun gilt es, den Willen der Götter zu befolgen.«

Und noch einmal spürte Arri, wie die Spannung ringsum stieg. Es war ein Gefühl wie unmittelbar vor dem Ausbruch eines Gewitters. Etwas schien in der Luft zu knistern, unsichtbar, aber so spürbar wie das Kribbeln zahlloser winziger Insektenbeine auf der Haut.

Der Hohepriester blieb Sarn die Antwort für eine geraume Weile schuldig. Er maß ihn nur mit einem sonderbaren, schwer zu deutenden Blick, dann schüttelte er noch einmal traurig den Kopf und sah wieder in den Himmel hinauf. Schließlich seufzte er tief. »Es ist Zeit«, murmelte er. »Die Sonne steht hoch.«

»Zeit wofür?«, erkundigte sich Sarn misstrauisch.

»Zu den Göttern zu sprechen und ihren Rat zu erflehen«, antwortete Nor. Ein müdes Lächeln erschien auf seinen Lippen und verschwand wieder, als er den Blick von der grellen Sonnenscheibe am Himmel losriss und sich wieder dem Schamanen zuwandte. »Vielleicht hast du Recht, mein Freund«, sagte er sanft.

Von allen Reaktionen, die er erwartet hatte, schien das für Sarn die überraschendste zu sein, denn für einen Moment wirkte er einfach nur fassungslos. Dann machte ein Ausdruck von Misstrauen in seinen Augen Platz. »Ihr...?«, begann er.

»Vielleicht haben wir zu lange in Frieden gelebt, und vielleicht habe ich tatsächlich verlernt, die Stimmen der Götter richtig zu deuten«, unterbrach ihn Nor. »Niemals darf auf diesem heiligen Boden Blut vergossen werden, Sarn, es sei denn das eines Opfers, nach dem die Götter verlangen. Aber vielleicht hast du ja Recht, und es ist das Leben dieses Mädchens, das sie begehren. Lass uns die Götter gemeinsam fragen, und wir werden sehen, wen von uns sie erleuchten.«

Sarn wirkte noch immer misstrauisch, hatte auch ebenso sichtlich mit seiner Überraschung zu kämpfen. Und auch Arri glaubte nicht, dass Nor einfach so aufgeben würde. Was immer der Hohepriester vorhatte, es konnte kaum das sein, was Sarn erwartete.

Der greise Schamane schien für sich zu dem gleichen Schluss gekommen zu sein, denn mit einem Mal wich die Überraschung auf seinem Gesicht Trotz und Entschlossenheit, und er setzte dazu an, etwas zu sagen, doch diesmal kam ihm Nor zuvor. Rasch drehte sich der Hohepriester um und machte eine gebieterische Geste mit seinem Stab, und das halbe Dutzend Dienerinnen, das die Opferschalen und das Holz gebracht hatten, trat wieder näher und begann das Reisig mit geschickten Bewegungen vor ihm auf der Oberseite des Altars aufzuschichten, bis ein spitzer Kegel entstanden war, der Nor fast überragte. Auch die Opferschalen wurden rechts und links davon aufgebaut, zwei Schalen mit Wasser, zwei mit Nahrung, dann entzündete eine der jungen Frauen den Inhalt einer weiteren, kleineren Schale, der aber nur einen kurzen Augenblick mit heller Flamme brannte, bevor sie in dunkle Glut überging, aus der ein zäher, blaugrauer Rauch aufstieg. Nor senkte seinen Stab, und irgendwo, so geschickt versteckt und postiert, dass man seinen Ursprung weder erkennen noch mit dem Gehör orten konnte, hob ein dumpfer, rhythmischer Trommelschlag an.

»Lasst uns zu den Göttern sprechen«, sagte Nor nun mit lauter, weit tragender Stimme. Die unruhige Bewegung auf dem Platz nahm zu, war nun aber von gänzlich anderer Art und strahlte mehr Furcht als Angriffslust aus, und Arri konnte fast körperlich spüren, wie sich etwas in der Menge, die sie umgab, veränderte. Vielleicht hatte Sarn noch vor Augenblicken eine gar nicht mal geringe Aussicht gehabt, die Menschen hier auf seine Seite zu ziehen, doch nun war sie vorbei.

Aber selbstverständlich gab er nicht so einfach auf. Für einen ganz kurzen Moment noch wirkte er verwirrt, zornig und hilflos, dann aber presste er trotzig die Lippen aufeinander und nickte. »Dann lasst die Götter entscheiden.«

Der Trommelschlag wurde lauter. Auch die anderen Priester traten näher an den Altar heran und begannen die gleiche Art von monotonem, an- und abschwellendem Singsang, den Arri schon am Morgen unten im Haus gehört hatte. Sarn rührte sich im allerersten Moment nicht von der Stelle, obwohl die Männer in ihren Reihen einen freien Platz für ihn gelassen hatten, sondern starrte Nor jetzt unverhohlen feindselig an, dann aber wich er mit einem trotzigen Schritt zurück auf den ihm zugewiesenen Platz - oder wollte es. Arri war ganz sicher, dass Nor abgewartet hatte, wie Sarn sich entschied, dann jedoch machte er eine rasche, abwehrende Geste und winkte den Schamanen ganz im Gegenteil wieder näher zu sich und dem Altar heran.

»Nicht doch, mein Bruder«, sagte er. »Wir wollen gemeinsam mit den Göttern reden, ihre Antwort gemeinsam vernehmen und den Menschen hier verkünden.«

Im allerersten Moment wirkte Sarn überrascht und rührte sich nicht von der Stelle, sondern ließ den Blick misstrauisch über Nors hoch aufgeschossene, barhäuptige Gestalt mit dem vollkommen haarlosen Gesicht schweifen, doch bevor sein Zögern wirklich auffallen konnte, trat er wieder auf den Hohepriester zu und nahm an seiner Seite Aufstellung. Nor nickte zufrieden, drehte sich mit einer betont langsamen Bewegung wieder zum Altar um und stampfte wuchtig mit seinem Stock auf. Der Zeremoniengesang der Priester hinter ihm wurde lauter, und auch der Schlag der unsichtbaren Trommeln nahm an Lautstärke und Hektik zu. Wieder traten zwei der jungen Dienerinnen an den Altar heran. Sie brachten weitere kleine Schalen, die sie mit einem brennenden Holz entzündeten und mit ehrfürchtigen Bewegungen vor den beiden so ungleichen Männern auf den schwarzen Stein setzten.