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»Nun... habe ich... zu den Göttern... gesprochen«, murmelte Nor. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Selbst Arri, die ihm von allen hier auf dem Platz beinahe am nächsten stand, hatte Mühe, die gekrächzten Worte zu verstehen - aber sie galten auch nicht ihr oder irgendeinem sonst hier, sondern einzig Sarn.

Der Schamane starrte ihn aus großen Augen an. Seine Lippen zitterten, als er zu antworten versuchte, aber er brachte keinen Laut hervor. Sein Blick irrte zwischen Nors Gestalt und dem längst zusammengefallenen Scheiterhaufen aus dürrem Reisig hin und her, und der Ausdruck, der allmählich darin aufglomm, spiegelte pures Entsetzen.

»Aber...«

»Die Götter haben zu mir gesprochen«, sagte Nor noch einmal, und jetzt mit lauterer, fester Stimme. Er wankte noch immer leicht, und Arri war ziemlich sicher, dass er Schmerzen litt, hatte sich aber trotzdem weit genug in der Gewalt, um sich umzudrehen und gemessenen Schrittes um den Altar herumzutreten, sodass er nun in voller Größe und unversehrt von jedermann zu sehen war. »Sie haben zu mir gesprochen, und ich soll euch allen ihren Willen kundtun!«

Seine dramatische Eröffnung sollte ihre Wirkung auf die Menge nicht verfehlen. Arri las noch immer Angst und pures Entsetzen auf zahlreichen Gesichtern, aber sie konnte die atemlose Ehrfurcht, die sich unter der Menge ausbreitete, fast körperlich spüren. Mehr als ein Mann und eine Frau sanken auf die Knie und senkten zitternd vor Furcht die Häupter, aber die Mehrzahl stand noch immer wie gelähmt da und starrte die halb nackte Gestalt des Hohepriesters an, von dessen Haut weiterhin dünner grauer Rauch aufstieg. Er hatte etwas von einem Dämon, fand Arri.

Eine der Dienerinnen - Arri erkannte sie erst jetzt als Nors jüngere Frau, das Mädchen, das sie am Morgen so feindselig angestarrt hatte - kam heran und versuchte Nor seinen Umhang um die Schultern zu legen, aber er schob sie nur unwillig zur Seite und hob in der gleichen Bewegung die Arme.

»Unser Bruder Sarn hatte Recht«, rief er mit lauter und nun wieder festerer Stimme. »Ich habe die Götter befragt, und sie haben mir ihren Willen offenbart!«

Sarn drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen zu Nor hin, sagte aber nichts. Er wirkte mit einem Mal sehr aufmerksam.

»Wir sind zu weich geworden«, fuhr Nor fort. »Unser Volk hat verlernt, für sein Überleben zu kämpfen und die nötige Härte walten zu lassen, und es ist wahr, dass sich unsere Feinde bereitmachen, uns zu überfallen und uns alles zu nehmen, wofür unsere Väter und deren Väter gekämpft und ihre Leben gegeben haben. Deshalb sei Folgendes beschlossen: Wir werden wieder nach den Regeln unserer Väter leben und nur die bei uns dulden, die für ihr Essen auch arbeiten können. Wir werden den alten Gesetzen gehorchen und die alten Götter anbeten und ihnen opfern, nicht fremden Göttern, die uns mit ihren Gaben einzulullen versuchen, damit unsere Wachsamkeit nachlässt und unsere Feinde leichtes Spiel mit uns haben.«

Sarn wirkte plötzlich eher noch misstrauischer, kam aber trotzdem mit langsamen Schritten näher. Er stützte sich schwer auf seinen Stab, als bereite ihm das Gehen mit einem Male Mühe, und seine freie Hand suchte zusätzlich Halt an der Kante des schwarzen steinernen Altars und berührte dabei wie zufällig die Schale, aus der Nor die vermeintliche Glut genommen hatte. Seine Hand zuckte zurück, und ein plötzlicher Ausdruck von Schmerz verzerrte seine Lippen und verschwand dann wieder.

Nor wartete reglos, bis der Schamane an seine Seite getreten war, und ließ auch dann noch eine weitere Zeitspanne verstreichen, bevor er sich halb umdrehte und gebieterisch auf Rahn wies. »Die beiden Männer, die du mitgebracht hast, können nicht länger in unserer Mitte bleiben. Wir alle wissen, was sie für uns getan haben, und in unseren Herzen wird immer ein Platz für sie sein, aber nicht mehr an unseren Feuern. Das haben die Götter über ihr weiteres Schicksal entschieden.«

Krons Gesicht verlor jede Farbe, während der Schmied einfach nur verwirrt dreinblickte und offensichtlich nicht wirklich verstanden hatte, was Nors Worte bedeuteten. Rahn jedoch sog ungläubig die Luft ein und starrte den Hohepriester aus aufgerissenen Augen an. »Aber das... das könnt Ihr doch nicht machen«, stammelte er. »Nor!«

»Schweig!«, fuhr ihn Sarn an. »Was fällt dir ein, dem Hohepriester zu widersprechen? Du hast seine Worte gehört!«

»Aber das ist nicht gerecht!«, protestierte Rahn. »Du hast doch selbst gesagt, dass...«

»Lass es gut sein, Sarn«, unterbrach ihn Nor. Er streckte den Arm aus, wie um Sarn die Hand auf die Schulter zu legen, führte die Bewegung dann aber im letzten Moment nicht zu Ende, sondern prallte fast erschrocken zurück, was Arri nicht verstand, obwohl sie das Gefühl hatte, es eigentlich verstehen zu müssen. »Du darfst Rahn nicht zürnen, Sarn. Diese Männer sind seine Freunde, die er sein Leben lang kennt, und er hat sie sicher im Vertrauen darauf hierher gebracht, dass die Götter auch jetzt wieder die gleiche Milde walten lassen werden, an die wir uns seit Längerem gewöhnt haben.«

Sarn funkelte ihn an. Der Vorwurf in Nors Stimme war kaum noch verhohlen gewesen. Er schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment herunter, maß Nor noch einmal mit einem Blick, in dem sich beißender Zorn, aber auch mindestens ebenso starke Angst mischten, und wandte sich wieder zu Rahn und seinen beiden Begleitern um, vermutlich, um seinen Zorn nun an ihnen auszulassen. Doch Nor kam ihm auch jetzt wieder zuvor, indem er sich mit fester Stimme, aber überraschend sanftem, fast um Vergebung bittendem Ton an den Fischer wandte.

»Nicht ich bin es, der das entschieden hat, Rahn«, sagte er bedauernd. »Ginge es nach mir, hätten diese beiden so lange sie leben einen Platz in unserer Mitte, denn ich weiß, dass sie aufrechte Männer sind, und was ihnen zugestoßen ist, das geschah im Dienste unseres Volkes.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber die Götter haben anders entschieden, und es steht uns nicht zu, ihre Entscheidung zu kritisieren, oder uns ihr gar zu widersetzen. Es tut mir Leid, aber das ist der Befehl der Götter: Du wirst diese beiden bis zum Rand unseres Landes begleiten, von wo aus sie allein weiterziehen müssen. Sie mögen so viel Wasser und Nahrung mitnehmen, wie sie tragen können, warme Kleidung und Waffen für die Jagd, aber es ist ihnen verboten, jemals wieder einen Fuß auf unser Land zu setzen.«

Sarn sah immer noch überrascht aus, zugleich auch äußerst zufrieden, und während er sich wieder umdrehte, um Rahns Reaktion zu beobachten, streifte sein Blick kurz und voller boshafter Vorfreude Arris Gesicht, und erst in diesem Moment, dafür aber mit umso größerer Wucht, wurde ihr klar, was die Worte des Hohepriesters wirklich bedeuteten - und was sie unter Umständen für sie bedeuten mochten. Wenn Nor über diese beiden Männer, die nicht ganz unschuldig an ihrem Schicksal waren, so grausam und unbarmherzig entschied, welches Schicksal mochte er dann erst ihr zugedacht haben?

»Aber das ist...« Rahn brach mit einem hilflosen Kopfschütteln ab und drehte die Hände fast flehend in Nors Richtung. »Das ist nicht... nicht gerecht.«

»Es ist der Wille der Götter«, sagte Nor nur noch einmal. »Und es steht uns Menschen nicht zu, nach dem Sinn ihrer Worte zu fragen. Du wirst gehorchen.«

Einen Moment lang sah Rahn so aus, als wolle er noch einmal widersprechen, dann aber neigte er demütig den Kopf und ließ in einer plötzlich kraftlosen Geste auch die Arme wieder sinken. Achk hatte offensichtlich immer noch nicht wirklich begriffen, was geschah, vielleicht wollte er es auch nicht, während sich auf Krons Gesicht ein Ausdruck zwischen abgrundtiefem Entsetzen und bitterer Enttäuschung ausbreitete. Der Winter stand vor der Tür. Vielleicht würde es in wenigen Tagen bereits zu schneien anfangen. Ein Einarmiger und ein Blinder, allein auf sich gestellt in der Wildnis und in dieser Jahreszeit - Nors Worte bedeuteten nichts anderes als ihr sicheres Todesurteil.