Выбрать главу

Und sie selbst?, dachte Arri. Welches Schicksal mochten Nors Götter für sie bereithalten? Sie fühlte sich wie betäubt. Für einige kurze Augenblicke hatte sie Hoffnung geschöpft und sich eingebildet, Nor wäre tatsächlich der gerechte, weise Herrscher, als der er sich so gern gab, oder wenigstens ein Mann, in dessen Herzen noch Platz für Mitleid verblieben war, aber nun begriff sie, wie lächerlich diese Hoffnung gewesen war. Nichts anderes als eine Lüge, mit der sie sich selbst etwas vorgemacht hatte. Viel zu spät wurde ihr klar, dass sie in dem Augenblick, in dem Nor in den Mantel aus Flammen gehüllt dagestanden hatte, tatsächlich eine gute Aussicht gehabt hätte zu entkommen, denn niemand hätte ihr größere Beachtung geschenkt, wäre sie herumgefahren und davongerannt. Aber sie hatte wie alle anderen dagestanden und das unglaubliche Schauspiel angestarrt, und damit unwiderruflich ihre letzte Gelegenheit vertan, am Leben zu bleiben. Letzten Endes hatte der brennende Mann aus der Mine seine Rache doch noch bekommen.

»Und die Götter«, fuhr Nor mit unveränderter, ruhiger Stimme fort, »haben auch entschieden, was mit diesem Kind zu geschehen hat.«

Arris Herz begann schneller zu hämmern und schien ihr gleichsam aus der Brust springen zu wollen. Sie versuchte, den Hohepriester so gefasst und herausfordernd anzusehen, wie sie nur konnte, aber ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, und ihre Kraft reichte nicht aus, seinem Blick standzuhalten.

»Es ist ihr Wille, dass dieses Mädchen bei uns bleiben und eine der Unseren werden soll«, fuhr Nor fort. »Sie wird Jamus Weib werden und ihm dienen und kräftige Söhne gebären.«

Etwas in Arri zerbrach. Das war also das Ende. Ihr Leben hatte noch nicht einmal richtig angefangen, und jetzt würde sie...

... was?!

Verwirrt und hoffnungslos überrascht sah sie sich um. Ihre Ohren mussten ihr einen bösen Streich gespielt haben. Aber wenn, dann waren es nicht nur ihre Ohren gewesen. Auch auf Sarns faltenzerfurchtem Gesicht zeichnete sich für einen Moment ein Ausdruck ungläubiger Verblüffung ab, dann Fassungslosigkeit und jäh auflodernde Wut, und als Arri sich verstört umsah, erblickte sie auf den Gesichtern aller anderen dieselbe Überraschung und den gleichen Ausdruck ungläubigen Zweifels.

Aber das konnte doch nicht sein. Sie... sie musste sich getäuscht haben!

»Ihr... Ihr wollt mich nicht... nicht töten?«, murmelte sie stockend.

»Nicht was ich will, zählt«, antwortete Nor. »Ginge es nach mir und dem Willen vieler anderer hier, so würdest du für die Schuld deiner Mutter bezahlen, wie es Sitte und Brauch bei uns ist. Aber die Götter haben entschieden, dein Leben zu verschonen. Du wirst eine der Unseren und kannst mit deiner Hände Arbeit den Schaden wieder gutmachen, den deine Mutter angerichtet hat.«

Es fiel Arri immer noch schwer zu glauben, was sie hörte. Auch wenn sie dem groben Jamu als Eheweib versprochen war, hatte sie mittlerweile doch längst mit ihrem Leben abgeschlossen. Warum sollte Nor sie verschonen? Noch dazu jetzt, wo der Machtkampf zwischen ihm und Sarn so offensichtlich geworden war? Sarn würde rücksichtslos jede Gnade, die er ihr gegenüber walten ließ, zu seinem Vorteil nutzen und gegen ihn wenden!

»Das... das kann nicht der Wille der Götter sein«, murmelte Sarn. Seine Stimme bebte, auch wenn das Zittern darin eher Unglauben und Fassungslosigkeit entsprang als Zorn. Er war noch viel zu überrascht, um wirklich wütend zu werden. »Sie... dieses Balg ist genau so schlimm wie seine Mutter, wenn nicht gefährlicher! Ihr legt eine Schlange an Eure Brust, Nor!«

Arri behielt die beiden ungleichen Männer aufmerksam im Auge, aber ihr entging dennoch nicht die Reaktion der anderen hier. Nicht nur auf den Gesichtern der Priester, die auf der anderen Seite des Altars standen, zeigte sich ein Ausdruck von Unmut, hier und da wurde auch schon wieder ein unwilliges Murren laut oder das eine oder andere geflüsterte Wort, das klarmachte, dass die Menschen hier nicht unbedingt einverstanden mit Nors Entscheidung waren.

»Zweifelst du den Willen der Götter an?«, fragte Nor kalt. Er deutete mit einer verächtlichen Geste auf den Altar und den noch immer glimmenden Reisighaufen. »Wenn es so ist, dann frage sie selbst.«

Sarn ging gar nicht auf diese Herausforderung ein - und was hätte er auch schon tun sollen? -, aber er strich sich mit der freien linken Hand über die Finger der rechten, die er sich gerade an der Opferschale verbrannt hatte, vermutlich, ohne es selbst auch nur zu merken. Auf seinem Gesicht lieferten sich Wut und Enttäuschung einen stummen Zweikampf, aber schließlich senkte er demütig das Haupt und trat, ohne noch ein Wort gesagt zu haben, einen Schritt zurück.

»Die Götter haben entschieden, und so soll es geschehen«, sagte Nor noch einmal. Er maß Arri mit einem sonderbaren Blick, den sie zwar nicht deuten konnte, der aber plötzlich viel sanfter und verständnisvoller war als alles, was sie jemals an ihm gesehen hatte, hob dann müde den Kopf und schien jemanden zu suchen.

»Geht jetzt wieder an eure Arbeit«, fuhr er fort. »Es ist genug für einen Tag. Wir wollen die Götter nicht erzürnen, indem wir über ihren Beschluss reden und ihn in Zweifel ziehen. Ich bin erschöpft und muss mich ausruhen. Wartet eine Weile, und dann bringt Jamu zu mir und das Mädchen. Die Vermählung wird noch heute stattfinden.«

31

Nor wirkte krank. Die meisten Fackeln, die noch am Morgen für ein unheimliches Spiel von düster-roter Helligkeit und huschenden Schatten gesorgt hatten, waren jetzt erloschen, und in dem bleichen Zwielicht, welches das Langhaus erobert hatte, sah sein Gesicht eingefallen und um Jahre gealtert aus. Von der fast greifbaren Aura von Kraft und unerschütterlicher Sicherheit, die er noch vorhin im Heiligtum ausgestrahlt hatte, war nichts mehr geblieben. Müde und mit kraftlos gegen die hohe Rückenlehne des Stuhles gelegtem Kopf saß er in dem gestohlenen Thronsessel, und hätte sich nicht manchmal ein verirrter Lichtstrahl funkelnd in seinen nur noch halb geöffneten Augen gebrochen, hätte man meinen können, er schliefe; oder wäre tot.

Die Atempause, die er sich gegönnt hatte, war knapp bemessen gewesen. Arris Bewacher hatten sie zwar eilig wieder in ihr steinernes Gefängnis auf der anderen Seite des Hügels zurückgebracht; aber sie hatte nicht einmal genügend Zeit gefunden, ausreichend zu trinken und sich an der Schale mit geschmacklosem Brei gütlich zu tun, die bei ihrer Rückkehr auf sie gewartet hatte, da war der Riegel auch schon wieder scharrend zurückgeschoben worden, und dieselben Männer, die sie gerade in so großer Hast hierher gebracht hatten, hatten sie schon wieder herausbefohlen, um sie zu Nor zu bringen. Arri hatte keine entsprechende Frage gestellt, schon weil sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde, aber die Verwirrung und auch der leise Unmut der Männer waren nicht zu übersehen gewesen. Nor hatte seinen Entschluss offensichtlich sehr kurzfristig wieder geändert; das, oder es war etwas passiert.

Arri hatte sich auf dem ganzen Weg hierher und mit nicht geringer Sorge den Kopf darüber zerbrochen, war aber natürlich zu keinem Ergebnis gelangt, und auch das, was sie jetzt hier im Langhaus erwartete, gab ihr eher noch weitere Rätsel auf, statt eine der tausend Fragen zu beantworten, die ihr durch den Kopf schossen.

Sie hatte geglaubt, das Haus wieder voller Menschen zu sehen, vielleicht nicht ganz so vielen wie am Morgen, aber doch erfüllt von dem beständigen Treiben und Kommen und Gehen, das für ein so großes Gebäude wie dieses typisch war, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Nor und die jüngere seiner Frauen, zwei ebenso wortlos wie grimmig dreinblickende Krieger, die wie die lebendig gewordenen Gegenstücke der geschnitzten Statuen vor dem Eingang rechts und links hinter seinem Thronsessel standen, und die beiden Männer, die Arri hergebracht hatten, waren die einzigen. Darüber hinaus war das große, plötzlich von einer sonderbaren Kälte erfüllte Langhaus leer, und selbst ihre beiden Bewacher blieben nur lange genug, damit Nor sie mit einer Handbewegung und einem müden Blick entlassen konnte, bevor auch sie wieder gingen.