Seither war eine geraume Weile verstrichen. Arri hätte nicht sagen können, wie lange; aufgeregt, durcheinander und - natürlich - verängstigt, wie sie war, hatte sie ihr persönliches Zeitgefühl längst verloren. Vermutlich stand sie tatsächlich erst seit wenigen Augenblicken vor Nors gestohlenem Thron und wartete darauf, dass der Hohepriester das Wort ergriff oder überhaupt irgendetwas tat, was darüber hinaus ging, sie aus seinen trübe gewordenen und plötzlich von dunklen Ringen umgebenen Augen anzustarren, aber ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Niemand war hier außer Nor, seiner Frau, den beiden Kriegern und ihr selbst. Niemand sagte etwas. Niemand regte sich. Dennoch spürte sie, dass etwas geschehen war. Oder geschehen würde.
»Du hast dich also entschieden«, brach Nor das immer unangenehmer werdende Schweigen schließlich. So etwas wie der Versuch eines Lächelns erschien auf seinen schmalen Lippen und verschwand sogleich wieder. »Gut. Ich bin froh, dass du doch noch vernünftig geworden bist.«
Arri sah verwirrt hoch und konnte gerade noch im letzten Moment die patzige Antwort herunterschlucken, die ihr auf der Zunge lag. Nor hatte ihr nicht einmal die Gelegenheit gegeben zu antworten - wie also hätte sie sich entscheiden können?
»Ist... Jamu nicht gekommen?«, fragte sie stattdessen und sah sich suchend um. Während sie herein und hierher gekommen war, hatte sie niemanden außer Nor und seinen Kriegern gesehen, aber das Haus war so groß und unübersichtlich genug, dass der Genannte durchaus irgendwo verborgen in den Schatten stehen und sie belauschen konnte.
Nors Lächeln wurde eine Spur wärmer, und in seinen Augen, so müde sie auch blicken mochten, erschien nun ein fast belustigtes Funkeln. »Du scheinst es ja gar nicht mehr abwarten zu können, deinen zukünftigen Ehemann zu treffen«, sagte er spöttisch.
Arri schwieg auch dazu, aber Nor schien auch keine Antwort erwartet zu haben, denn er stützte sich nun mit beiden Händen auf den Lehnen des Sessels ab und stemmte sich hoch. Einer der beiden Krieger hinter ihm löste sich rasch von seinem Platz, um ihm zu helfen, doch der Hohepriester verscheuchte ihn mit einer zornigen Geste und arbeitete sich, mühsam und vor Anstrengung ächzend, dennoch aber aus eigener Kraft in eine aufrecht sitzende Position hoch, die trotz seiner schwer hängenden Schultern, des Zitterns seiner Hände und des Ausdrucks völliger Erschöpfung auf dem Gesicht sogar einigermaßen würdevoll aussah.
»Mir scheint, ich habe mich tatsächlich nicht in dir getäuscht«, fuhr er nach einer erschöpften Pause fort. »Du magst die Sturheit deiner Mutter geerbt haben, und ich bin nicht sicher, ob du nicht ebenso verschlagen bist wie sie oder es zumindest einmal sein wirst. Aber du hast auch ihren Mut geerbt, und das ist etwas, was ich achte, selbst bei einem so jungen Menschen wie dir.«
»Ich hatte wohl keine große Wahl«, antwortete Arri schulterzuckend. »Oder würde sich irgendetwas ändern, wenn ich wimmernd auf die Knie fiele und um Gnade winselte?«
In den Augen der jungen Frau, die wie ein wohlerzogener Schoßhund mit angezogenen Knien auf dem Boden neben dem Thronsessel hockte, blitzte es schon wieder hasserfüllt auf, und auch der eine der beiden Krieger warf ihr einen Blick zu, von dem Arri nicht sicher war, ob er nun strafend oder drohend war; Nor selbst aber hatte alle Mühe, nicht zu belustigt auszusehen. Vielleicht hatte er die Wahrheit gesagt, und es war wirklich so, dass er Mut achtete; was aber nicht hieß, dass er ihr deswegen jede Unverschämtheit durchgehen lassen würde. Arri gemahnte sich in Gedanken zur Vorsicht. Was Nor als Tapferkeit empfand, so gestand sie sich insgeheim ein, war zu einem nicht geringen Teil einfach nur der Mut der Verzweiflung, und das Gefühl, ohnehin nichts mehr zu verlieren zu haben.
Wieder verging eine Weile, in der Nor nichts anderes tat, als dazusitzen und sie auf eine durchdringend-abschätzende Art anzustarren, die sie sich immer unbehaglicher fühlen ließ. Arri hätte viel darum gegeben, in diesem Moment auch nur einen einzigen seiner Gedanken lesen zu können. Nor hatte sie nicht nur hierher bestellt, um sie zu verspotten, und es hatte auch einen Grund, dass Jamu nicht da war, und auch keiner der anderen. Aber warum war sie hier?
Gerade als das Schweigen wirklich unerträglich geworden war, atmete Nor hörbar aus und winkte den Krieger wieder heran, den er gerade so rüde davongescheucht hatte. »Geh und bring Jamu hierher«, befahl er. Wieder an Arri gewandt und mit einem nun eindeutig spöttischen Funkeln in den Augen fügte er hinzu: »Schließlich möchte ich nicht, dass dir am Ende noch das Herz bricht, wenn du gar zu lange auf deinen zukünftigen Mann warten musst, mein Kind.«
Der Krieger zögerte noch ein letztes Mal, Nors Befehl Folge zu leisten, drehte sich dann aber mit einem Ruck weg und eilte mit schnellen Schritten hinaus, während Arri nur mit Mühe dem Impuls widerstand, sich umzudrehen und ihm nachzublicken. Der geflochtene Thronsessel ächzte hörbar, als Nor sich erneut zurücksinken ließ, und er hatte es kaum getan, da schien abermals alle Kraft aus seinen Körper zu weichen. Mit einem Mal kam es Arri so vor, als schlackere der bunte Umhang um seine Schultern, fast als wäre Nor tatsächlich kleiner geworden, was natürlich Unsinn war, den allgemeinen Eindruck von Schwäche und Schmerz, der den Hohepriester umgab, aber noch verstärkte. Was immer er vorhin bei dem Zeremoniell wirklich getan hatte, dachte Arri, es musste all seine Kraft von ihm gefordert haben.
Nicht, dass sie nicht gewusst hätte, was es war.
Sie schwiegen, bis hinter ihnen wieder Schritte laut wurden und der Krieger in Begleitung von Jamu zurückkam. Arri musste sich nicht umdrehen, um das zu wissen. Sie erkannte Jamu tatsächlich schon am Geräusch seiner Schritte, was sie selbst ein wenig erstaunte, aber auch mehr als nur ein wenig alarmierte. Und sie spürte auch, wie sie sich gegen ihren Willen versteifte und die Muskeln anspannte, als die beiden Männer hinter ihr näher kamen. Der Krieger ging in großem Abstand an ihr vorbei, um seine Position hinter Nors Thron wieder einzunehmen, während es sich Jamu natürlich nicht nehmen ließ, sie gerade derb genug anzurempeln, um sie zwar nicht von den Füßen zu reißen, aber beinahe aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nor kommentierte dieses vermeintliche Ungeschick mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln, sagte jedoch nichts dazu, sondern drehte sich mühsam zu den beiden Männern hinter seinem Stuhl herum. »Lasst uns allein«, befahl er.
Einer der beiden Männer tat sofort, wie ihm geheißen, und ging, der andere jedoch trat nur gerade weit genug vor, um dem Hohepriester ins Gesicht blicken zu können, und fragte in zweifelndem Ton: »Seid Ihr sicher? Sie ist gefährlich, und...«
»Ich hoffe doch, dass Jamu und ich zusammen in der Lage sind, mit diesem zarten Wesen fertig zu werden«, fiel ihm Nor ins Wort, zwar in eindeutig amüsiert-spöttischem Ton, zugleich aber auch mit einem Blick, der dem Mann jede Lust darauf vergällte, seine Frage zu wiederholen. Mit einem erschrockenen Nicken fuhr er herum und rannte regelrecht hinaus.
»Seid Ihr wirklich sicher?«, fragte Arri den Hohepriester.
»Womit?« Das Funkeln stand noch immer in Nors Augen, aber Arri gewahrte jetzt auch einen deutlichen Ausdruck von Schmerz darin, und nun, im Nachhinein, erkannte sie, dass derselbe Ausdruck die ganze Zeit über schon nicht aus seinem Gesicht gewichen war und seine Bewegungen und seine Miene diktierte.
»Dass zwei Männer ausreichen, um mit mir fertig zu werden«, sagte sie. Jamus Gesicht verfinsterte sich nun vor Zorn, und auch in den Augen der jungen Frau flammte wieder purer Hass auf.
Am liebsten hätte sie sich gleich danach auf die Lippe gebissen. Wer auch immer - die Götter, das Schicksal oder die pure Willkür des Zufalls -, irgendjemand oder -etwas hatte entschieden, dass sie am Leben bleiben würde, und sie sollte froh sein, dass sie überhaupt noch hier stehen und mit dem Hohepriester sprechen konnte, und nicht gesteinigt oder bei lebendigem Leibe verbrannt worden war. Aber statt nun wenigstens jetzt zu schweigen, warf sie Jamu einen kurzen, verächtlichen Blick zu und fuhr dann in noch boshafterem Ton fort: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir mein zukünftiger Ehemann irgendetwas antut, bevor er sich nicht zumindest einmal geholt hat, was er von mir will.«