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»Wasser«, bat Nor plötzlich. Das Wort galt seiner Frau, die sich unverzüglich mit einer fließenden Bewegung erhob und davoneilte, um schon im nächsten Augenblick wieder zurückzukehren, eine flache, reich verzierte Tonschale mit frischem, klarem Wasser in den Händen. Der Blick, mit dem sie Nor maß, während sie die Schale an seine Lippen setzte, dachte Arri, war wenig mitfühlend, aber sehr aufmerksam. Abschätzend?

»Sarn wird das niemals zulassen«, fuhr sie fort. »Er wird...«

Sie unterbrach sich, als sich Nor an seinem Wasser verschluckte und qualvoll und hart zu husten begann. Nors Frau wollte die Schale von seinen Lippen zurückziehen, doch er griff rasch nach ihrem Handgelenk und hielt es fest. Sein ausgemergelter Körper schüttelte sich in Krämpfen, und für einen Moment sah es aus, als bekäme er keine Luft mehr und drohte zu ersticken. Dann jedoch beruhigte er sich wieder.

»Du hast Angst, dass ich sterben könnte und Sarn sich dann an dir rächt«, würgte er mühsam hervor. Er wollte das Gesicht zu einem Grinsen verziehen, doch es geriet nur zu einer abscheulichen Grimasse. Mühsam schüttelte er den Kopf, trank mit großen, gierigen Schlucken und begann abermals und noch qualvoller zu husten, fuhr aber nach einem Augenblick trotzdem fort: »Sarn mag ein machtgieriger alter Mann sein, aber er ist nicht dumm. Er weiß so gut wie ich, dass wir dich brauchen. Du hättest es bei ihm nicht so gut wie bei mir, das ist wahr, aber er würde es nicht wagen, dich anzurühren. Nicht, solange deine Mutter noch am Leben ist und er sich nicht über die Absichten der Fremden klar sein kann.« Damit hatte er vermutlich sogar Recht, dachte Arri, zugleich aber auch wieder nicht. Nors Worte waren nur vernünftig, aber Sarn gehörte ganz zweifellos zu jenen Menschen, denen Vernunft nicht mehr viel bedeutete, wenn irgendetwas ihre Pläne und Absichten störte.

Nor nickte müde und arbeitete sich umständlich in eine wieder etwas aufrechtere Position hoch, und die junge Frau setzte die Schale behutsam zu Boden, nahm aber jetzt nicht wieder zu seinen Füßen Platz, sondern richtete sich ebenfalls wieder auf und legte die linke Hand auf seinen Unterarm. Nor dankte es ihr mit einem raschen, warmen Blick, den sie ebenso ruhig und fast teilnahmslos erwiderte. Sie sagte nichts, und Arri wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit über geschwiegen hatte, sowohl jetzt als auch am Morgen. Vielleicht hatte Nor ihr verboten, in ihrer Gegenwart zu reden. Vielleicht aber...

Irgendetwas stimmte nicht. Nors Frau sah dem Hohepriester noch einen Moment lang wortlos und kalt ins Gesicht, dann drehte sie rasch den Kopf und tauschte einen bezeichnenden Blick mit Jamu, und aus dem vagen Gefühl wurde Gewissheit. Irgendetwas war hier nicht so, wie es sein sollte, und nur einen winzigen Augenblick später wusste Arri auch, was.

Aber diese Erkenntnis kam zu spät.

Vielleicht begriff es auch Nor selbst noch im allerletzten Moment, denn seine Augen weiteten sich, und er versuchte, sich loszureißen und seine Frau gleichzeitig davonzustoßen, aber erschöpft, verletzt und überrascht, wie er war, gelang es ihm nicht. Ohne sich dabei auch nur sichtlich anstrengen zu müssen, stieß die junge Frau den Hohepriester zurück in den Stuhl, zog mit der anderen Hand den Feuersteindolch unter dem Mantel hervor und fuhr mit der Klinge über Nors Kehle. Der scharfe Stein glitt ohne sichtbaren Widerstand durch sein Fleisch. Nor gab ein letztes, gluckerndes Keuchen von sich, und eine wahre Fontäne von Blut schoss aus seinem Hals, besudelte ihre Hand und ihre Unterarme und färbte seine Brust und seinen Mantel rot. Arri wollte schreien, aber ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Alles ging viel zu schnell, als dass sie auch nur einen einzigen, klaren Gedanken hätte fassen können. Mit einem Mal war Jamu neben ihr und versetzte der jungen Frau einen harten Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht, sodass sie zurücktaumelte und halb bewusstlos zu Boden sank. Noch ehe sie gänzlich gestürzt war, beugte er sich über sie, entriss ihr den Dolch - und drückte ihn Arri in die Hand!

Sie versuchte ihn davonzustoßen und gleichzeitig zu schreien, doch der scheinbar so plumpe Mann entwickelte eine erstaunliche Schnelligkeit. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung war er hinter ihr, schlang den linken Arm um ihren Hals und hielt ihr mit der Hand Mund und Nase zu. Seine andere schloss sich mit unerbittlicher Kraft um Arris rechte Hand, die nun die blutbesudelte Waffe hielt, dann versetzte er ihr einen Stoß, der sie haltlos gegen den Thronsessel und den sterbenden Hohepriester taumeln ließ.

»Mörderin!«, schrie er. »Wachen! Kommt her! Zu Hilfe!« Arri versuchte vergeblich, seinen Griff zu sprengen. Seine linke Hand hielt ihr immer noch Mund und Nase zu, wie es der Krieger im Bergwerk getan hatte, sodass sie weder schreien noch atmen konnte, und vielleicht wollte er sie auf genau die gleiche Art töten, auf die sein Kamerad Runa umgebracht hatte. Seine Hand quetschten ihre Finger mit so unbarmherziger Kraft, dass sie spürte, wie ihr kleiner Finger brach, und zugleich drückte er sie immer noch und unerbittlich gegen den im Todeskampf zuckenden Körper des alten Hohepriesters.

»Zu Hilfe!«, schrie Jamu immer wieder. »Sie hat Nor umgebracht!«

Die schiere Todesangst verlieh Arri neue Kräfte. Irgendwie gelang es ihr, sich von Nor abzustoßen und den Kopf so zur Seite zu drehen, dass sie wenigstens atmen konnte, wenn schon nicht schreien.

Vielleicht hätte sie es ohnehin nicht gekonnt, als ihr Blick über den sterbenden Hohepriester glitt. Nors Augen waren weit geöffnet, und noch war Leben darin, auch wenn es schwächer wurde, und ein abgrundtiefes, vollkommen fassungsloses Entsetzen, das alles übertraf, was Arri jemals zuvor gesehen hatte. Seine Hände waren kraftlos heruntergefallen, und aus seiner zerschnittenen Kehle schoss noch immer eine pulsierende, rote Fontäne, die nicht nur seine Brust und seinen Mantel und den Stuhl besudelte, sondern auch Arris Gesicht und Brust. Seine Lippen bewegten sich, als versuche er noch etwas zu sagen, aber er brachte keinen Laut mehr hervor, und dann, so plötzlich, als hätte der Dolch ein zweites Mal und jetzt sein Herz getroffen, verschwand das Leben aus seinen Augen, und sein Körper erschlaffte endgültig und sackte in dem gestohlenen Symbol seiner Macht zusammen.

Hinter ihnen wurden aufgeregte Stimmen und Schritte laut. Männer stürmten herein. Jemand schrie etwas, und Jamu zerrte Arri mit einem brutalen Ruck zurück, ließ endlich ihr Gesicht los und schleuderte sie aus der gleichen Bewegung heraus zu Boden, umklammerte ihre Hand, die die Mordwaffe hielt, dabei aber noch immer mit aller Kraft, sodass ihr Arm brutal aus dem Schultergelenk gedreht wurde und sie vor Schmerz fast das Bewusstsein verlor. Wie durch einen dichten Nebel hörte sie Jamu weiter und mit schriller, hysterischer Stimme schreien.

»Sie hat ihn getötet! Das verdammte Hexenkind hat Nor umgebracht!«

Aber das war doch nicht wahr! Arri trieb am Rande einer tiefen Bewusstlosigkeit entlang. Sie war nicht fähig, sich zu rühren oder auch nur einen einzigen Laut hervorzubringen, und doch war noch immer etwas in ihr, das mit nichts anderem als Empörung auf diese ungeheuerliche Lüge antwortete.

Aufgeregte Schritte näherten sich ihr. Stimmen begannen durcheinander zu rufen und zu schreien, und sie spürte, dass sie getreten wurde, zwei oder drei oder auch vier Mal und sehr hart, aber der grelle Schmerz, der in ihrem Leib explodierte, schien völlig bedeutungslos zu sein. Ganz im Gegenteil bereitete er ihr keine Pein, sondern half ihr eher noch dabei, den Kampf gegen die Schwärze zu gewinnen, die ihre Gedanken verschlingen wollte. Aus den grauen Nebeln, die ihren Blick verschleierten, schälten sich Gestalten, hasserfüllte Gesichter, die auf sie herabblickten, ein Speer, der in ihre Richtung stieß und im letzten Augenblick von einer Hand beiseite geschlagen wurde.