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Dann klärte sich ihr Blick endgültig, und mit dieser Klarheit kamen auch die Schmerzen, die sie bisher nur registriert, nicht aber wirklich gespürt hatte. Ihre rechte Hand pulsierte wie das herausgerissene, aber noch schlagende Herz eines Beutetiers, und die Tritte mussten ihr mindestens eine Rippe gebrochen haben, wenn nicht mehr. Jeder Atemzug bereitete ihr Qual, und ihre Schulter war tatsächlich ausgekugelt und schien in Flammen zu stehen. Eine schmale, auf einen Knotenstock gestützte Gestalt in einem bunten Mantel näherte sich ihr und scheuchte die durcheinander laufenden und rufenden Krieger mit einer herrischen Bewegung beiseite.

»Was ist geschehen?«, herrschte Sarn. »Jamu! Sprich! Was ist hier passiert?« Der Krieger ließ endlich ihre Hand los, und Arris Arm fiel kraftlos auf den Boden herab. Ihre Finger öffneten sich, und der blutbesudelte Dolch rutschte klappernd ein Stück davon und blieb direkt vor Sarns Füßen liegen.

»Es war nicht meine Schuld!«, verteidigte sich Jamu. Seine Stimme zitterte, und die Angst darin war echt. »Es ging alles so schnell, dass man es nicht einmal wirklich sehen konnte. Sie muss ihre Zauberkräfte eingesetzt haben!«

»Zauberkräfte?«, schnappte Sarn. »Du warst dafür verantwortlich, dass Nor nichts geschieht! Warum hast du nichts getan?«

»Es ist nicht meine Schuld!«, rief Jamu wieder. Seine Stimme klang jetzt fast weinerlich. Arri versuchte, sein Gesicht zu erkennen, aber ihre Augen verweigerten ihr immer noch den Dienst. Alles, was sie sehen konnte, war ein verwaschener grauer Fleck, der immer wieder auseinander zu treiben schien, und das galt auch für alle anderen Gesichter hier - seltsamerweise nur nicht für das Sarns. Seine faltigen Züge konnte sie genau erkennen, und auch den bösen Triumph, der in seinen Augen loderte.

»Sie muss mich verzaubert haben«, beteuerte Jamu. »Mich und auch Sasa.« Er deutete auf Nors Frau, die sich mühsam auf die Ellbogen hoch gestützt hatte und immer wieder benommen den Kopf schüttelte. Ihr Gesicht begann bereits anzuschwellen. Blut lief aus ihrer Nase und ihrer aufgeplatzten Unterlippe, und ihr Blick tastete unstet umher.

»Sie ist plötzlich vorgesprungen und hat Sasa niedergeschlagen und ihr den Dolch entrissen. Ich war wie gelähmt! Ich konnte mich erst wieder bewegen, als sie Nor die Kehle durchgeschnitten hatte!«

Arris Empörung explodierte regelrecht. »Das ist nicht wahr!«, schrie sie. »Ich habe...«

Sarn rammte ihr das Ende seines Stocks in den Leib, sodass ihr die Luft wegblieb und sie sich vor Schmerz krümmte. »Schweig!«, donnerte er. »Noch ein Laut, Hexenkind, und ich lasse dir die Zunge herausreißen!«

Arri krümmte sich noch weiter und rang qualvoll nach Luft. Sie hätte trotzdem noch weiter protestiert, denn was Sarn ihr gerade angedroht hatte, war vermutlich nichts gegen das, was er so oder so tun würde, aber sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht einmal richtig atmen.

Plötzlich stieß Nors Frau ein erschrockenes Keuchen aus, sprang auf die Füße und war mit einem gewaltigen Satz bei ihrem ermordeten Ehemann. Mit leisem, nahezu tonlosem Wimmern warf sie sich über ihn, umarmte seinen leblosen Körper und begann mit einer Hand um sich zu schlagen, als einer der Krieger hinter sie trat und sie wegziehen wollte.

»Lass sie«, sagte Sarn. Dann wandte er sich wieder um und sah abwechselnd Arri und Jamu und dann wieder Arri an. Heiliger Zorn verdüsterte sein Gesicht, vielleicht ausgenommen des einen, wohl nur für Arri sichtbaren Moments, in dem er Jamu ansah und etwas anderes in seinen Augen erschien, ein böser, durch und durch zufriedener Triumph. Eine geraume Weile blieb er einfach so stehen und starrte auf sie herab, dann schüttelte er den Kopf und schien plötzlich nicht mehr die Kraft zu haben, sich aufrecht zu halten, denn er stützte sich schwer auf seinen Stock, sodass einer der Männer hinzutrat und rasch seine freie Hand ergriff, um ihn zu stützen.

»Nor hat sich geirrt«, murmelte er. Seine Stimme war leise, fast nur ein Flüstern, und dennoch so klar zu verstehen, dass jedermann hier drinnen die Worte hören musste. Ein tiefes Bedauern und ein großer Schmerz sprachen daraus. »Bei allen Göttern schwöre ich, dass ich mir gewünscht habe, er möge sich irren - aber nicht so.« Er schüttelte traurig den Kopf. Als er weitersprach, war seine Stimme wieder lauter geworden und klang jetzt gefasst.

»Bringt sie weg. Ich werde heute Nacht zum Heiligtum hinaufgehen und die Götter fragen, was mit ihr geschehen soll.«

32

In dieser Nacht hatten die Feuer, deren roter Schein durch den winzigen Spalt unter der Decke ihres Gefängnisses drang, besonders hell gebrannt. Niemand war gekommen, um ihr zu essen oder zu trinken zu bringen, niemand war gekommen, um mit ihr zu reden oder ihr mitzuteilen, welches schreckliche Schicksal Sarns Götter für sie entschieden hatten; aber es war auch niemand gekommen, um sie zu holen.

Jetzt musste es beinahe wieder Morgen sein, und bald würden sie kommen.

Jedenfalls nahm Arri an, dass es so geschehen würde. Da der schmale Ausschnitt des Himmels, den sie durch das winzige Fenster erkennen konnte, die ganze Nacht über rot im Widerschein zahlloser Feuer geglüht hatte und das immer noch tat, war es ihr unmöglich, die Zeit an der Position der Sterne über ihr zu bestimmen, und das Fenster ging in die falsche Richtung, sodass sie den Mond nicht sehen konnte. Seit einiger Zeit glaubte sie jedoch etwas wie einen blassen, grauen Schimmer zu erkennen, der den Himmel aufhellte und beharrlich an der Glut der Feuer fraß.

In dieser Nacht schien niemand Schlaf gefunden zu haben, und obwohl der Wind so stand, dass er die meisten Geräusche von ihr weg trug, hatte sie dann und wann doch etwas gehört: den dumpfen Schlag einer Trommel, ein leises Jammern und Wehklagen, das von deutlich mehr als einer Stimme stammte, einmal einen scharfen, peitschenden Knall, den sie sich nicht hatte erklären können, und noch andere, unheimlichere Laute, die ihr allesamt unbekannt und furchteinflößend erschienen waren. Arri nahm an, dass Sarn möglicherweise wirklich gleich nach Sonnenuntergang ins Heiligtum hinaufgegangen war, um die Götter anzurufen, ihr Urteil über die heimtückische Mörderin und ihre Gnade erbat und Nors Tod betrauerte (und so ganz nebenbei und nur für sich den Umstand feierte, dass sein Plan so mühelos aufgegangen war und er nun die Macht über Goseg hatte), aber nicht einmal dessen war sie sich völlig sicher.

Sie hatte keine Erinnerung an das, was in der Zeit zwischen dem Augenblick, in dem die wütenden Männer sie hierher gebracht und derb zu Boden geschleudert hatten, und jenem Moment tief in der Nacht, in dem sie wieder zu sich gekommen war, geschehen war. Sie war nicht bewusstlos gewesen, und sie hatte schon gar nicht geschlafen, doch die Spanne zwischen diesen beiden Momenten war trotzdem wie ausgelöscht. Manchmal erwies sich der Schmerz als Freund. Ihr ausgekugelter Arm, das heftige Klopfen ihres gebrochenen Fingers und die dünnen, rot glühenden Dornen, die sich bei jedem Atemzug von innen heraus in ihre Brust zu bohren schienen, hatten sie in einen Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Wachsein geschleudert, in dem kein Platz mehr für einen klaren Gedanken oder auch nur für Furcht war.

Aber diese Momente barmherziger Pein waren vorbei. Irgendwann hatte es aufgehört; natürlich nicht wirklich. Ihre Hand pochte immer noch, die Qual in ihrer linken Schulter war nur so lange erträglich, wie sie in einer ganz bestimmten Haltung an die Wand gelehnt dasaß und nicht die mindeste Bewegung machte, und jeder Atemzug bereitete ihr Schmerzen, aber nun war es keine unerträgliche Agonie mehr, sondern nur noch bloßer Schmerz, den sie kannte und mit dem sie umzugehen verstand.

Beinahe wünschte sich Arri die unerträgliche Qual von vorhin zurück. Es war furchtbar gewesen, mit das Schlimmste, was sie jemals erlebt hatte, und doch... nachdem sich der erstickende Griff der Pein um ihre Gedanken gelockert hatte, hatte die Furcht Einzug in ihr Herz gehalten.