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Sie würde sterben. Aus der Angst, die zu ihrer treuen Begleiterin geworden war, seit man sie in dieses Dorf aus Stein gebracht hatte, war nun Gewissheit geworden, und auch wenn sie vorher fast überzeugt davon gewesen war, sterben zu müssen, so wusste sie nun, dass es so kommen würde. Und das war ein gewaltiger Unterschied.

Eine Zeit lang hatte Arri sich einzureden versucht, dass Nor vielleicht Recht gehabt hatte und Sarn tatsächlich klug genug war, um einzusehen, wie wertvoll sie für ihn und das gesamte Dorf war, und sie am Leben lassen würde - und sei es nur als Geisel.

Aber natürlich würde er das nicht tun. Nicht nach dem, was sie gesehen hatte. Niemand würde ihr glauben, schon gar nicht, wenn ihre Aussage gegen die von Jamu und Nors Frau stand, doch Sarn konnte es sich trotzdem nicht leisten, sie am Leben zu lassen. Und wenn schon nicht er, dann Jamu. Arri kannte den schwarzhaarigen Krieger kaum, aber sie war dennoch sicher, dass er niemals das Wagnis eingehen würde, einen Zeugen des Meuchelmords am Leben zu lassen. Vermutlich würde er früher oder später auch Sasa töten. Sie aber ganz bestimmt.

Nein, dachte sie bitter, diesmal würde kein Wunder geschehen, das sie im letzten Moment doch noch rettete. Die Zeit, die ihr blieb, verrann im gleichen Maße, in dem das Grau der heraufziehenden Dämmerung den roten Feuerschein am Himmel auslöschte. Sobald es endgültig hell geworden war, würden sie kommen, um sie zu holen.

Arri hatte Angst. Unvorstellbare Angst. Angst vor dem Tod, aber noch viel größere Angst vor dem, was ihm vorausgehen würde. Ihre Mutter hatte ihr einmal erklärt, dass man den Tod im Grunde nicht zu fürchten brauchte. Wenn alle anderen Recht hatten und sie sich irrte und es die Götter und ein Weiterleben nach dem Tode wirklich gab, dann hatte man auch keinen Grund, Angst davor zu haben. Und wenn nicht... nun, dann erst recht nicht, denn dann wäre es ja nur so, als ob man in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiele, der einfach nie mehr aufhörte. Dieser Gedanke war ein Trost gewesen, schon, weil er so einleuchtend klang, aber er verlor mehr und mehr von seiner beruhigenden Kraft, je näher der Moment kam, an dem sie herausfinden würde, wer sich geirrt hatte - ihre Mutter oder der Rest der Welt.

Viel mehr Angst aber noch als davor hatte Arri vor dem, was Sarn tun würde. Sarn war kein Mann, in dessen Sprache Platz für das Wort Gnade war, und nach dem, was sie Nor angeblich angetan und das er und viele seines Volkes mit eigenen Augen gesehen zu haben glaubten, gab es erst recht keinen Grund für ihn, ihr einen schnellen, gnädigen Tod zu gewähren. Ganz im Gegenteil würde ihr Sterben lange dauern und zweifellos grauenhaft sein. Und bald, dachte Arri, wenn der letzte Trommelschlag verklungen und der letzte rote Schein am Himmel verblasst war, würden sie kommen und sie holen.

Die Schwärze draußen vor dem Fenster hellte sich allmählich auf, und die Feuer, die oben im Heiligtum, vermutlich aber auch im Dorf auf der anderen Seite des Hügels brannten, schienen eines nach dem anderen zu erlöschen, und irgendwann hörte auch der dumpfe Trommelschlag auf, der ihrem Herzen seinen Rhythmus aufgezwungen hatte, auch wenn sie selbst es nicht einmal merkte.

Niemand kam, um sie zu holen.

Einmal hörte sie Schritte und das Geräusch aufgeregter, wenngleich auch gedämpfter Stimmen durch das dicke Holz der Tür dringen, dann das hysterische Kläffen eines Hundes, das unglaublich lange anzuhalten schien, doch es verging noch eine lange, sehr lange Zeit, bis der Riegel endlich wieder zurückgezogen wurde und Arri in dem unerwartet hellen Licht der Morgensonne blinzeln musste, das durch den breiter werdenden Türspalt hereindrang. Unwillkürlich hob sie die Hand vor die Augen und musste gleich darauf die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien, denn sie hatte den linken Arm benutzt, und ihre ausgekugelte Schulter dankte es ihr mit wildem Schmerz. Irgendwie gelang es ihr, einen Schrei zu unterdrücken, aber der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, sodass sie die Gestalt, die hereinkam und sich über sie beugte, nur verschwommen erkennen konnte.

Im allerersten Moment glaubte sie, es sei Rahn. Daran, dass er gekommen war, um ihr zu sagen, dass sich alles doch noch zum Guten gewendet habe, dass Sarns niederträchtiger Plan aufgedeckt worden sei und er selbst, Kron und Achk hier bleiben dürften und sie am Leben bleiben werde. O ja, und dass ihre Mutter gekommen sei, um sie abzuholen, damit sie in ihre Heimat zurückkehren konnten - die doch nicht untergegangen sei -, um sie auf den dort gerade frei gewordenen Thron zu setzen.

Natürlich war es nicht Rahn. Noch während sie den Gedanken dachte, erkannte sie, dass es ganz im Gegenteil Jamu war, der vor ihr stand und mitleidlos auf sie herabblickte, und trotzdem fühlte sie sich für einen Moment von einer wilden, vollkommen sinnlosen Hoffnung gepackt, die so stark war, dass sie selbst den grausamen Schmerz in ihrer Schulter vergaß.

»Ich hoffe, du hast gut geschlafen«, sagte Jamu höhnisch. Er selbst sah aus, als hätte er in dieser Nacht überhaupt keinen Schlaf gefunden, aber Arri nahm an, dass das auf jeden im Ort zutraf. »Das wird nämlich deine letzte Nacht gewesen sein.«

»Warum?«, stieß Arri zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »Habt ihr beschlossen, dass ich eure Gastfreundschaft lange genug ausgenutzt habe und nun gehen muss?«

Für einen Moment verdunkelte Zorn Jamus Gesicht, doch er hatte sich fast augenblicklich wieder in der Gewalt. »Deine Frechheiten werden dir bald vergehen«, sagte er nur. »Steh auf!«

Arri versuchte es, aber steif gesessen und müde und durch ihren unbrauchbaren linken Arm behindert, war sie für seinen Geschmack anscheinend nicht schnell genug, denn er beugte sich mit einem unwilligen Knurren vor und riss sie am Arm in die Höhe; und gewiss nicht zufällig an ihrem linken Arm. Arri stieß einen schrillen Schrei aus und fiel unverzüglich wieder auf die Knie. Der Schmerz war so grauenhaft, dass sie sich um ein Haar auf seine in abgewetzten Sandalen steckenden Füße erbrochen hätte. Sie unterdrückte es nur deshalb mit aller Macht, weil sie wusste, dass er ihr dann vermutlich noch sehr viel mehr wehgetan hätte.

Immerhin gab sich Jamu mit dieser einen, kleinen Quälerei zufrieden und verzichtete darauf, noch einmal an ihrem verletzten Arm zu reißen, sondern ließ sie ganz im Gegenteil los, trat nur einen Schritt zurück und wedelte ungeduldig mit der Hand. »Steh auf!«, befahl er grob. »Sarn erwartet dich.«

Ja, dachte Arri, und ich bin sicher, er hält es vor lauter Wiedersehensfreude kaum noch aus. Sie war klug genug, vorsichtshalber gar nichts zu sagen, sondern kämpfte sich nur mit zusammengebissenen Zähnen wieder in die Höhe und presste ihren linken Arm mit der rechten Hand so fest an ihren Leib, wie sie konnte. So war der Schmerz in ihrer Schulter wenigstens halbwegs zu ertragen. Sie stand zwar taumelnd da, aber sie stand, und das aus eigener Kraft. Der Anblick schien Jamu zu ärgern. Arri registrierte mit einem Gefühl absurder Befriedigung, dass ihr Zustand und ihr Benehmen offensichtlich ganz und gar nicht dem entsprachen, was er erwartet hatte, als er hierher gekommen war. Aber wenn er geglaubt hatte, sie in Tränen aufgelöst und winselnd vor Furcht um ihr Leben flehend vorzufinden, dann enttäuschte sie ihn gerne. Sie war vernünftig genug, um sich selbst zu sagen, dass sie noch früh genug wimmern und schreien würde, aber zumindest würde sie es nicht vor Angst tun. Und schon gar nicht vor ihm.

»Was starrst du mich so an, Hexenkind?«, fragte Jamu, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vermutlich sah man sie ihr sehr deutlich an.

»Ich versuche dich zu verzaubern«, antwortete Arri böse. »Immerhin ist es mir schon einmal gelungen, oder etwa nicht? Ich meine: Es muss doch so gewesen sein - es sei denn, du hättest tatsächlich Angst vor einem Mädchen mit einem Steinmesser gehabt.«