Выбрать главу

Sie wusste, dass er Recht hatte. Wäre sie ausgeruht und im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, dann hätte sie sich zugetraut, ihm tatsächlich davonlaufen zu können, zumindest bis zum Waldrand, und dort, zwischen den dicht stehenden Bäumen und dem noch dichter wuchernden Unterholz, wäre sie ihm sogar ganz bestimmt entkommen, denn Jamu hatte den Großteil seines Lebens hier in Goseg verbracht und war allenfalls ein paar Mal auf der Jagd oder als Begleiter seines Herrn auf Reisen gewesen, während sie praktisch in den dichten Wäldern rings um ihr Heimatdorf aufgewachsen war. Aber ganz davon abgesehen, was Jamu ihr gestern angetan hatte, war ihr Knie immer noch nicht vollständig ausgeheilt, und so übel, wie ihr das Schicksal im Augenblick mitspielte, würde es ihr ganz bestimmt genau in dem Moment den Dienst aufkündigen, in dem sie am dringendsten darauf angewiesen war zu laufen. Außerdem war sie vollkommen erschöpft und konnte sich nach all der Zeit, die sie in der unbequemen Haltung an der Wand hockend zugebracht hatte, nur mühsam bewegen.

»Hast du eigentlich gar keine Angst, dass meine Mutter dich zur Verantwortung ziehen wird?«, fragte sie.

Jamu lachte. »Wie kann sie mich für etwas verantwortlich machen, was du getan hast?«, gab er in fast fröhlichem Ton zurück. »Selbst, wenn sie unseren Kriegern entkommt, wird sie nur erfahren, dass du hingerichtet worden bist, weil du den Hohepriester ermordet hast. Das ist ein schweres Verbrechen. Ich nehme an, selbst dort, wo ihr herkommt.«

Arri schwieg betroffen. Wenn überhaupt, so war ihr einziger, schwacher Trost in der zurückliegenden Nacht vielleicht der Gedanke gewesen, dass ihre Mutter und Dragosz furchtbare Rache für ihren Tod nehmen, zurückkehren und Goseg bis auf die Grundmauern niederbrennen würden - aber so schrecklich der Gedanke auch war, Jamu hatte Recht. Niemand außer ihm selbst und dem stummen Mädchen wussten, was wirklich geschehen war, und so würde ihrer Mutter nur genau das zu Ohren kommen, was er gerade gesagt hatte. Und als hätte er ihre Gedanken erraten und wollte ihre Verzweiflung noch ein bisschen schüren, fuhr er fort: »Und was die neuen Freunde deiner Mutter angeht... glaubst du wirklich, sie würden einen Krieg anfangen, nur um den Tod eines Mädchens zu rächen, das zur Mörderin geworden ist und das nicht einmal ihrem Volk entstammt?« Er schüttelte heftig den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten.

»Vielleicht kommen sie ja sowieso«, sagte Arri. Die Worte hatten böse klingen sollen, oder zumindest drohend, aber sie hörten sich selbst in ihren eigenen Ohren nur verzweifelt an.

»Dann sollen sie«, sagte Jamu überzeugt. »Sie wären nicht die Ersten, die in Goseg und seinen Verbündeten leichte Beute sehen und einen hohen Preis für diesen Irrtum zahlen. Wären sie wirklich ein Volk so gewaltiger Krieger, wie man es ihnen nachsagt, dann wären sie längst hier.«

»Grahl und seine Brüder...«

»... sind ihnen bereits begegnet, ich weiß«, fiel ihr Jamu ins Wort. »Aber sie haben sie nicht angegriffen.«

Arri blieb überrascht stehen, was Jamu aber diesmal nicht hinnahm, sondern ihr ganz im Gegenteil einen derben Stoß versetzte. »Woher weißt du das?«, fragte sie, während sie weiter stolperte und dabei ungeschickt versuchte, das Gleichgewicht zu waren.

»Von Kron«, gestand Jamu. »Er hat mir die Wahrheit gesagt. Nicht er und seine Brüder waren es, die angegriffen wurden, sondern dieser Fremde, mit dem deine Mutter herumbuhlt.« Er schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Diese drei Dummköpfe dachten wohl, sie hätten leichtes Spiel mit ihm. Er muss ein wahrhaft großer Krieger sein, das gebe ich zu.«

»Und du hast trotzdem keine Angst vor ihm und seinem Volk?«

»Vor ihm allein?« Jamu lachte. »Gewiss nicht. Er wäre dumm, allein hierher zu kommen. Und was sein Volk angeht...« Er zuckte ein paarmal mit den Schultern und tat so, als müsse er angestrengt nachdenken. »Die Geschichte dieser Fremden, die über die Berge kommen und nichts als Leid und Verwüstung hinterlassen, wird seit drei oder vier Sommern erzählt. Wenn sie so schlimm wären, wie man sagt, meinst du nicht, dass sie dann längst hier wären? Ich habe mit vielen gesprochen, die Geschichten über sie zu erzählen wissen und von ihnen gehört haben - aber mit keinem einzigen, der einem von ihnen begegnet wäre, von Kron einmal abgesehen.«

»Ist er noch hier? Er und Achk?«

»Sie sind gestern bei Sonnenuntergang fortgegangen, so wie es beschlossen war«, sagte Jamu gehässig. »Übrigens in Begleitung deines alten Freundes Rahn, der es sich nicht hatte nehmen lassen, bis zuletzt für sie Partei zu ergreifen. Jetzt kann er zusammen mit den anderen im Winter Schnee und Baumrinde fressen. Das geschieht dem Dummkopf ganz recht.«

Arianrhod war viel zu verdattert, um auf diese Neuigkeit angemessen eingehen zu können. »Nor hatte ihnen noch eine letzte Nacht an eurem Feuer versprochen«, sagte sie hilflos.

»Nor«, sagte Jamu betont, »ist tot. Sarn ist unser neuer Hohepriester, und er hat beschlossen, dass sie sofort gehen müssen.«

»Das ist grausam«, sagte Arri, was ihr selbst ein bisschen lächerlich vorkam angesichts dessen, was ihr vermutlich bevorstand.

Jamu lachte auch nur. »Es ist richtig. Sie sind zu nichts mehr nutze. Die Nahrung, die sie in dieser Nacht gegessen hätten, hätte uns vielleicht im nächsten Winter gefehlt, um ein Kind vor dem Verhungern zu bewahren. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir sie auf der Stelle erschlagen, aber Sarn hat entschieden, Gnade walten und sie am Leben zu lassen. Vielleicht«, fügte er verächtlich hinzu, »ist das der Preis, den man zahlen muss, wenn man ein ganzes Volk führt. Man wird weich.«

Sie hatten die Hügelkuppe fast erreicht, und Arri wollte den Weg zum Heiligtum einschlagen, doch Jamu schüttelte nur den Kopf und deutete nach links, den schmalen Trampelpfad entlang, den sie schon am vergangenen Morgen mit ihren Bewachern genommen hatte. Arri fiel erst jetzt auf, wie still es war. Irgendwo, weit entfernt, hörte sie die Stimmen von Menschen, die Laute von Tieren und andere Geräusche, aus dem großen Palisadenbau jedoch drang nicht der geringste Laut. Vielleicht erwartete Sarn sie ja wieder unten im Langhaus.

Dann hatten sie die Hügelkuppe endlich erreicht, und als Arris Blick auf das Gelände an seinem jenseitigen Fuß fiel, blieb sie erschrocken stehen und sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Die Menschenmenge, die unten auf sie wartete, war im Vergleich zum Vortag noch einmal um mindestens das Doppelte angewachsen. Sarn musste dem Beispiel seines Vorgängers gefolgt sein und Männer in alle umliegenden Dörfer ausgesandt haben, um möglichst viele Zuschauer herbeizubefehlen, die seiner endgültigen Machtübernahme beiwohnen sollten.

Vielleicht aber auch etwas anderem...

»Du bist überrascht, wie?«, fragte Jamu hinter ihr. Erstaunlicherweise verzichtete er darauf, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und ihr einen weiteren, derben Stoß zu versetzen, der sie zweifellos kopfüber den Hang hinunterbefördert hätte. Als sich Arri zu ihm umdrehte, gewahrte sie schon wieder dieses hässliche, boshafte Grinsen auf seinen Zügen, das diesmal jedoch eine andere Qualität hatte und ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

»Du bist erstaunt, dass es so viele sind, nicht wahr?«, fragte er höhnisch. »Ich war selbst überrascht. Du musst entweder ganz besonders beliebt bei den Menschen sein oder ganz besonders verhasst. Jedenfalls sind sie nur deinetwegen gekommen.«

»Meinetwegen?«, wiederholte Arri verständnislos.

Jamu nickte heftig. »Sie sind gekommen, um deiner Hinrichtung beizuwohnen, Hexenkind. Was sonst?«