Obwohl sie in der Mitte des großen Geheges stand, konnte sie das erschrockene Raunen der Menge hören, die ihre Worte ebenso deutlich verstanden haben musste wie Sarn, und sie sah, wie Jamu ganz leicht zusammenfuhr und vergeblich versuchte, den Schrecken zu verhehlen, den er bei dieser Drohung empfand. Sarn aber lächelte nur und schüttelte den Kopf, wie ein Erwachsener, der gerade einige besonders dumme Worte aus dem Munde eines einfältigen Kindes mit angehört hatte.
»Du dummes Ding«, sagte er, jetzt aber so leise, dass selbst Arri sich fast anstrengen musste, um die Worte überhaupt zu verstehen. Sie waren nur für ihre Ohren gedacht. »Verfluche uns ruhig, wenn du willst. Drohe ruhig mit deinen Zauberkräften. Alle anderen hier mögen es glauben, aber ich kenne das wahre Geheimnis eurer Zauberkräfte. Es ist keine Magie. Du bist so wenig eine Zauberin wie deine Mutter eine ist. Mögen alle anderen deinen Fluch hören und sich davor fürchten. Umso größer wird der Triumph unserer Götter sein, wenn sich dein Fluch nicht erfüllt.«
Wären ihr nicht sowieso schon die Tränen über das Gesicht gelaufen, Arri hätte vermutlich vor lauter Enttäuschung losgeheult. Es war, als hätte Sarn ihre Gedanken nicht nur gelesen, sondern vorausgeahnt, sodass er eine Antwort auf alles parat hatte, was immer sie auch sagen konnte. Noch einmal bäumte sie sich mit aller Kraft gegen ihre Fesseln auf, erreichte dadurch aber nicht mehr, als den Ausdruck von Zufriedenheit auf Sarns Gesicht noch zu schüren und sich selbst noch mehr Schmerz zuzufügen. Schließlich gab sie es auf und ließ sich zurücksinken, so weit es die straff gespannten Stricke zuließen, die ihre Arme hielten.
»Vergeude deine Kräfte nicht«, sagte der Schamane. »Du solltest die wenige Zeit, die dir noch bleibt, lieber nutzen, um mit dir selbst und deinen Göttern ins Reine zu kommen.«
Er sah aus, als erwarte er tatsächlich eine Antwort, doch Arri starrte ihn nur aus tränenverschleierten Augen und mit zusammengebissenen Zähnen an. Schließlich bedeutete er Jamu mit einem Wink, dass er gehen solle, und wandte sich selbst in der gleichen Bewegung ab, um seiner eigenen Aufforderung Folge zu leisten. Jamu hingegen trat noch einmal auf Arri zu, blieb so dicht vor ihr stehen, dass sie seinen Atem riechen konnte, und sah ihr einen Moment lang nachdenklich in die Augen. Dann, so schnell, dass sie die Bewegung nicht einmal richtig wahrnahm und erst begriff, was er getan hatte, als sie sich von einer neuerlichen Welle brennender Schmerzen überflutet fühlte, hob er sein Messer und versetzte ihr zwei tiefe Schnitte in die Oberschenkel, die sofort heftig zu bluten begannen. Arri stöhnte vor Qual, und noch mehr heiße Tränen liefen über ihr Gesicht, aber sie gönnte ihm trotzdem nicht die Genugtuung, sie schreien zu hören.
»Nur, damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, Kleines«, sagte er hämisch. »Sie haben gelernt, nicht sofort an die Kehle zu gehen.« Und damit wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten davon, bis er Sarn eingeholt hatte und sich dem Tempo des langsameren alten Mannes anpasste.
Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Arri kämpfte mit aller Macht gegen die drohende Bewusstlosigkeit an (wobei sie sich fragte, warum sie das eigentlich tat, statt die gnädige Ohnmacht willkommen zu heißen, die das Schicksal ihr senden wollte), blinzelte die Tränen weg, so gut sie konnte, und sah den beiden ungleichen Männern einen Atemzug lang hinterher. Vielleicht hatte sie tatsächlich für einen Moment das Bewusstsein verloren, denn Jamu und der Schamane schienen plötzlich ein gutes Stück weiter weg als zuvor. So gut sie es aus der unnatürlichen Haltung heraus konnte, die ihr die straff gespannten Stricke aufzwangen, sah sie an sich herab und versuchte die Wunden zu erkennen, die Jamu ihr beigebracht hatte. Sie hatten nur im ersten Moment wirklich wehgetan. Der Schmerz verebbte bereits und war nicht annähernd so schlimm wie das, was in ihrer Schulter tobte. Sie bluteten heftig, allerdings nicht so stark, dass sie in kurzer Zeit daran sterben würde. Warum also hatte Jamu das getan? Die naheliegendste Antwort, auf die sie kam, war natürlich, dass es dem Mann einfach Freude bereitete, sie zu quälen, aber irgendetwas sagte ihr, dass das nicht die ganze Wahrheit war.
Das plötzlich lauter werdende Murmeln und Raunen der Menge drang wie das Geräusch eines plötzlichen Windstoßes im Blätterdach des Waldes an ihr Ohr und ließ sie aufsehen. Sarn und sein Begleiter hatten das Tor in der Umzäunung fast erreicht. Eine Anzahl Krieger beeilte sich, das Gatter zu öffnen, und Sarn beschleunigte auch tatsächlich seine Schritte, als dieselben Männer, die Arri vorhin hierher eskortiert hatten, nun eine schmale Gasse für ihren neuen Herren bildeten. Jamu hingegen blieb dicht vor dem Tor stehen, und die lebende Gasse in der Menschenmenge schloss sich auch nicht gleich wieder hinter Sarn.
Erneut ging eine Woge sichtbarer Bewegung, untermalt von einem dumpfen Chor murmelnder, erschrockener oder gar begeisterter Ausrufe durch die Menge, und Arri sah, dass Sarn ebenfalls stehen geblieben war, sich umgedreht hatte und nun einen Schritt zur Seite trat, um zwei weiteren Männern Platz zu machen, die mit raschen Schritten näher kamen. Im allerersten Moment konnte Arri sie nicht wirklich erkennen, denn ihre Augen waren noch immer voller Tränen, und die Gestalt des Hohepriesters versperrte ihr zusätzlich den direkten Blick auf sie. Dann aber sog sie so erschrocken die Luft ein, dass sie sich an ihrem eigenen Speichel verschluckte und qualvoll zu husten begann.
Jeder der beiden Männer führte einen gewaltigen, struppigen Hund mit sich. Die Tiere waren größer als neugeborene Kälber und so massig, dass sie fast wie kleine Bären aussahen. Selbst über die große Entfernung hinweg konnte Arri ihre gewaltigen Gebisse erkennen, und sie zerrten und rissen so ungeduldig an ihren Stricken, dass selbst die beiden kräftigen Männer, die sie hielten, alle Mühe zu haben schienen, sie zu bezwingen. Ihr wütendes Knurren und Kläffen übertönte das aufgeregte Murmeln und Rumoren der Zuschauermenge.
Eine eisige Hand griff nach Arris Herzen und drückte es mit unbarmherziger Kraft zusammen. Für einen Moment bekam sie keine Luft mehr, und ihre Angst wurde so übermächtig, dass sie ihr abermals das Bewusstsein zu rauben drohte; alles begann sich um sie zu drehen, und von den Rändern ihres Gesichtsfeldes aus wuchsen graue Schatten rasch und lautlos heran. Diesmal wehrte sich Arri nicht gegen die Ohnmacht, sondern flehte sie nahezu herbei, und diesmal war es das Schicksal, das das Angebot ablehnte, das sie ihm machte. Ihr Herz hämmerte plötzlich wie wahnsinnig weiter, sie konnte wieder atmen, und auch die Nebel hoben sich wieder von ihren Augen.
Das also hatte Jamu gemeint, als er ihr zugeflüstert hatte, dass sie die Anweisung hätten, nicht sofort an die Kehle zu gehen.
Von allen Todesarten, die Arri sich ausgemalt hatte, war dies vielleicht nicht die Schlimmste, aber zweifellos die, vor der sie die größte Angst hatte. Sie hatte davon gehört, auch wenn es so lange her war, dass sie sich bis eben nicht einmal richtig daran erinnert hatte: ganz besonders wilde, blutrünstige Tiere, in deren Ahnenreihe sich eindeutig mehr Wölfe als zahme Hunde fanden und die schon als Welpen darauf abgerichtet wurden, Menschen anzugreifen und bei lebendigem Leibe zu zerreißen. In einigen dieser Geschichten, die besonders die Kinder aus dem Dorf gern erzählt hatten, hatte es geheißen, dass es eine geraume Zeit dauern konnte, bis sie ihre Opfer wirklich töteten, wenn es nicht das Glück hatte, vorher zu verbluten, und mehr als eines dieser Opfer dabei hatte zusehen müssen, wie es bei lebendigem Leibe aufgefressen wurde. Als sie diese Geschichten gehört hatte, war sie ein Kind gewesen, und sie hatte angemessenes Entsetzen verspürt, vor allem aber jenen wohligen Schauer, den solche Geschichten auslösen und der eigentlich der einzige Grund ist, aus dem man sie erzählt oder sich anhört.