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Später, bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie über diese Momente sprach, sollte sie stets behaupten, es wäre kühle Überlegung und die Erinnerung an das gewesen, was ihre Mutter sie gelehrt hatte, aber die Wahrheit war, dass sie niemals ganz begriff, woher sie die Kaltblütigkeit genommen hatte, einfach nur ruhig dazustehen und abzuwarten, bis das tobende Ungeheuer genau in der richtigen Entfernung angekommen war. Dann riss sie das rechte Bein in die Höhe und trat ihm mit aller Gewalt, die sie aufbringen konnte, mit der Ferse gegen die Schnauze.

Das schrille Heulen des Hundes hörte wie abgeschnitten auf. Arri keuchte vor Schmerz, als einer seiner langen Reißzähne abbrach und sich wie eine Messerspitze tief in ihre Fußsohle grub, aber sie hörte zugleich auch den hellen, knackenden Laut, mit dem sein Genick brach.

Der Schwung seines angefangenen Sprunges riss den Hund noch weiter nach vorne, sodass er schwer gegen Arri prallte und sie abermals das Gefühl hatte, ihre Arme würden ihr aus den Gelenken gerissen, aber der erwartete Schmerz, mit dem sich seine Fänge in ihre Kehle graben mussten, blieb aus. Der Hund schlitterte noch ein gutes Stück weiter, wobei er sich mehrmals überschlug, dann blieb er vollkommen reglos liegen.

Dafür waren die Krieger, die in Arris Richtung stürmten, fast heran. Einer von ihnen hatte bereits sein Schwert erhoben, und Arri bezweifelte, dass er es getan hatte, um ihre Fesseln damit durchzuschlagen, denn sein Gesicht war eine einzige Grimasse des Hasses. Genau wie der Hund zwei Herzschläge zuvor schien er immer schneller zu werden, je näher er kam, aber der Pfeil, der ihn aufhalten sollte, war eindeutig besser gezielt. Das Geschoss traf seine Stirn genau zwischen den Augen und riss seinen Kopf zurück. Als hätte sein Körper noch nicht wirklich begriffen, was geschehen war, machten seine Beine noch einen weiteren, stolpernden Schritt, wodurch seine Schultern in einer fast schon grotesk anmutenden Bewegung nach hinten geschleudert und seine Arme hoch in die Luft geworfen wurden. Das Schwert flog davon, und der sterbende Krieger vollführte einen halben Überschlag, bevor er mit dem Gesicht nach unten auf dem aufgeweichten Boden aufschlug.

Auch seine Kameraden prallten erschrocken mitten im Schritt zurück. Mindestens zwei von ihnen waren Arri nahe genug, um sie binnen eines Atemzuges erreichen zu können und zu Ende zu bringen, was die beiden Hunde und ihr Freund angefangen hatten, aber das Schicksal ihrer Vorgänger schien sie doch ziemlich beeindruckt zu haben. Für einen einzigen, wenn auch endlos erscheinenden Moment standen sie unschlüssig und wie gelähmt da, dann fuhr der Erste herum und suchte sein Heil in der Flucht, und als wäre das ein Signal gewesen, folgten ihm seine Kameraden.

Arri begann immer verzweifelter an ihren Fesseln zu zerren. Ihre Handgelenke waren längst aufgeschürft und bluteten, und sie war nicht ganz sicher, was zuerst nachgeben würde - ihre rechte Schulter oder der Pfahl, an den ihre Arme gebunden waren, aber darauf nahm sie nun keine Rücksicht mehr. Das Wunder, auf das sie gehofft hatte, war geschehen, und ganz gleich, welchen Preis sie dafür bezahlen musste, sie musste hier weg. Arri entfesselte die ganze gewaltige Kraft, die ihr die schiere Todesangst verlieh, und zerrte und riss an den Stricken, bis sie spürte, dass sie vor lauter Schmerz die Besinnung verlieren würde, wenn sie auch nur noch einen Augenblick weitermachte. Die beiden Pfähle hatten noch nicht einmal eine Winzigkeit nachgegeben.

Auch, wenn es ihr wie eine geraume Weile vorgekommen war, so konnten seit dem Moment, in dem plötzlich alles anders wurde, doch nur wenige Herzschläge verstrichen sein, denn als sie verzweifelt den Kopf drehte und zum Waldrand sah, in der festen Erwartung, ihre Mutter zu erblicken, die zusammen mit Dragosz mit einem gewaltigen Heer unbesiegbarer Krieger gekommen war, um sie zu retten (sie war nicht da), erblickte sie Jamu. Die Männer in seiner Begleitung hatten gerade einmal die halbe Entfernung dorthin zurückgelegt. Alle hatten ihre Waffen gezogen und ihre großen Schilde gehoben, und zumindest einem der Männer half dieses Schild sogar - oder hätte ihm geholfen, wäre auch jetzt wieder aus dem Wald ein Pfeil geflogen gekommen.

Unglückseligerweise war es ein Speer, der den geflochtenen Schild so mühelos durchschlug, als wäre er gar nicht da, und sich in die Brust seines Besitzers bohrte. Der Mann taumelte mit einem keuchenden Schrei zurück und brach zusammen, und noch bevor er wirklich zu Boden gestürzt war, gab der Waldrand einen Pfeil frei, der sich mit unglaublicher Präzision in das Knie eines zweiten Kriegers bohrte, der zwar umsichtig genug gewesen war, seinen Schild in die Höhe zu reißen, dabei aber vielleicht des Guten ein wenig zu viel getan hatte. Wie ein gefällter Baum stürzte er zu Boden und wälzte sich im zertrampelten Gras, wobei er kreischend sein Knie umklammerte, und spätestens bei diesem Anblick verlor der Angriff der anderen Männer deutlich an Schwung. Sie waren immer noch sechs oder sieben, und sie waren dem Waldrand mittlerweile nahe genug gekommen, dass die allermeisten von ihnen das Unterholz wohl auch erreicht hätten, ohne von einem weiteren, tückischen Geschoss getroffen zu werden.

Allerdings schien keiner von ihnen besonders erpicht darauf zu sein, zu denen zu gehören, die es vielleicht nicht schafften. Einzig Jamu stürmte noch zwei oder drei Schritte weiter, bevor ihm aufging, dass er plötzlich fast allein war, dann blieb er stolpernd stehen, und ein besseres Ziel hätte er dem versteckten Schützen wahrscheinlich gar nicht mehr bieten können.

Vielleicht rettete ihm sein Zögern aber auch das Leben, denn der Pfeil, der auf ihn gezielt gewesen war, durchschnitt die Luft genau dort, wo er gestanden hätte, hätte er auch nur noch einen einzigen weiteren Schritt getan. Sein gefiedertes Ende streifte Jamus Gesicht, das aber mit solcher Wucht, dass es seine Wange wie eine Messerklinge aus Feuerstein aufschnitt und frisches, hellrotes Blut sein Gesicht und den Bart besudelte. Schreiend vor Wut und Schmerz fuhr er herum und suchte sein Heil in der Flucht, wobei er unwillkürlich einen wilden Zickzackkurs einschlug, um dem Schützen hinter ihnen kein Ziel zu bieten, und genau wie schon einmal war seine Flucht auch das Signal für die anderen, es ihm gleichzutun.

Zu Arris Überraschung verzichteten die geheimnisvollen Angreifer darauf, den flüchtenden Männern in den Rücken zu schießen, um die Anzahl der Gegner zu verkleinern, die ganz zweifellos zu einem Gegenangriff ansetzen würden, sobald sie ihren ersten Schrecken und die Überraschung überwunden hatten. Dafür jedoch wurde der Chor gellender Schreie und entsetzter Ausrufe vom anderen Ende des umzäunten Platzes plötzlich lauter.

Alarmiert wandte Arri den Kopf, konnte aber im allerersten Moment nichts weiter erkennen als ein Bild des reinen Chaos. Etliche der Zuschauer schienen vor Schreck einfach gelähmt zu sein und standen mit aufgerissenen Augen und Mündern da, die meisten aber waren längst herumgefahren und suchten ihr Heil in der Flucht - was bei der Masse der zusammengekommenen Menschen zur Katastrophe führen konnte. Wer schnell genug war oder die Kraft und Rücksichtslosigkeit dafür hatte, der rannte einfach los und schuf sich mit Fausthieben und Ellbogenstößen Platz, und wer nicht, der wurde eben niedergeschlagen oder -getrampelt. Vor allem hinter dem jetzt wieder weit offen stehenden Tor war ein heilloses Durcheinander ausgebrochen, doch Sarn gehörte - und auch das überraschte Arri über die Maßen - zu den wenigen, die nicht in Panik davonzurennen versuchten, sondern schrie ganz im Gegenteil mit schriller Stimme auf seine Krieger ein, sich nicht wie die Feiglinge zu gebärden und sich den Angreifern zu stellen.

Nicht wenige der Männer versuchten auch tatsächlich, seinem Befehl zu folgen, aber das Chaos war einfach zu groß. Viele wurden von den Flüchtenden zu Boden gestoßen oder einfach mitgerissen, andere prallten gegen ihre Kameraden, die sich von der allgemeinen Panik hatten anstecken lassen, verhedderten sich in ihre Leiber und Glieder und stürzten zusammen mit ihnen zu Boden oder wurden gegen den Zaun gedrückt, bis entweder ihre Knochen oder die dicken Holzstämme nachgaben. Meistens waren es wohl Rippen oder Arme und Beine der Männer, doch an mindestens drei Stellen brach die Umzäunung splitternd unter dem Ansturm der Masse zusammen, und plötzlich hallte der große Platz von zahllosen, gellenden Schmerzens- und Angstschreien wider.