Und trotzdem, und obwohl es eigentlich unmöglich war, konnte Arri Sarns Stimme immer noch hören. »Tötet das Hexenkind!«, schrie er. »Ihr müsst sie töten! Das ist die Strafe der Götter dafür, dass sie noch am Leben ist!« Niemand hörte auf ihn. Wahrscheinlich hörte ihn überhaupt niemand, außer Arri, und selbst sie war plötzlich nicht mehr sicher, ob sie die Worte tatsächlich hörte oder sich nur einbildete. Wie durch ein Wunder war der Hohepriester bisher noch nicht zu Boden geschleudert oder einfach von der Menge aufgesogen worden, auch, wenn das Chaos ringsum immer nur noch schlimmer wurde.
Allmählich begann sich Arri zu fragen, was überhaupt geschehen war. Der Angriff war überraschend und mit erschreckender Präzision erfolgt, aber so sehr sie Sarn und seine Krieger auch verachtete, wusste sie doch, dass die Männer keine Feiglinge waren. Und allein die Art des plötzlichen Überfalls machte sogar ihr klar, dass es sich bei den Angreifern vermutlich nicht um ein ganzes Heer handelte, sondern nur um einige wenige. Sarns Krieger mussten das ebenso erkannt haben wie sie, und doch wurde der Chor entsetzter Stimmen und das Durcheinander flüchtender, rennender Menschen zumindest an der westlichen Seite des Platzes, wo Sarn und seine Krieger standen, eher noch schlimmer.
Dann sah sie den Grund. Auch Sarn war plötzlich verschwunden, als das Chaos rings um ihn herum einen Grad erreichte, bei dem ihn nicht einmal mehr sein bunter Mantel und die Autorität seines Ranges schützen konnte, und Dutzende von Männern und Frauen, die bisher verzweifelt versucht hatten, in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen, stürmten plötzlich durch das Tor und ins Innere des Geheges. Nicht wenige von ihnen stürzten und wurden einfach niedergetrampelt. Irgendjemand oder -etwas verfolgte die flüchtende Menge, aber es dauerte noch einmal endlose Augenblicke, bis Arri sah, was es war.
Es waren Wildschweine; kleine struppige Ungeheuer mit gefährlichen Hufen und tödlichen Hauern, Dutzende, die wie eine lebende, braunschwarz gestreifte Flut aus dem Wald herausbrachen und alles niedertrampelten, was sich ihnen in den Weg stellte. Die Tiere mussten halb wahnsinnig vor Angst sein, denn Arri wusste, dass selbst diese gefährlichen Kreaturen, die sehr wohl um ihre Kraft wussten und sie rücksichtslos einsetzten, gewöhnlich niemals gegen eine so große Menschenmenge vorgegangen wären. Das schrille Kreischen der heranstürmenden Schweine vermischte sich mit dem Chor entsetzter Schreckens- und Schmerzensschreie der Flüchtenden. Nur einer von Sarns Kriegern war tatsächlich so dumm, sich der lebenden braunen Flutwelle in den Weg stellen zu wollen und mit seinem Speer nach einem der Tiere zu stoßen, aber er bezahlte diesen Leichtsinn, den allerhöchstens er selbst mit Tapferkeit verwechselte, augenblicklich mit dem Leben. Seine Speerspitze rammte sich tief in den Leib eines Ebers, doch das Tier riss ihn noch im Todeskampf mit sich zu Boden, und er wurde von den nachfolgenden einfach niedergetrampelt. Von einigen der Tiere schien grauer Dunst oder Nebel aufzusteigen.
Arri bemerkte seltsam teilnahmslos, dass sich die durchgehende Wildschweinrotte genau in ihre Richtung bewegte. Sie hätte erschrecken müssen, aber wahrscheinlich fehlte ihr dazu mittlerweile einfach die Kraft. Ganz im Gegenteil war sie auf eine hysterische Art fast amüsiert, als ihr durch den Kopf schoss, dass sie vielleicht all das nur überlebt hatte, um von einer toll gewordenen Wildschweinherde zu Tode getrampelt zu werden. Falls Sarn zu den Überlebenden dieses Tages gehörte, dachte sie, dann wäre das für ihn vermutlich eine interessante Anregung, was das zukünftige Schicksal seiner Feinde anging.
Plötzlich durchschnitt ein einzelner, gellender Schrei das Chaos, so hoch und spitz und voller Entsetzen, dass für einen Moment jeder andere Laut bedeutungslos zu werden schien. Auch Arri hob mit einem erschrockenen Ruck den Kopf und sah wieder zum Tor hin, und ihre Augen weiteten sich ungläubig, als sie das riesige, schwarze Pferd sah, dass der Wildschweinrotte unmittelbar folgte. Seine Hufe schienen Funken aus dem Boden zu schlagen, und aus seinen Nüstern schoss brodelndes Feuer, das sich erbarmungslos auf die Tiere herabsenkte, die nicht schnell genug flohen.
Es war dieser schwarze Hengst, ein Ungeheuer wie ein lebendig gewordener Albtraum, der die gesamte Meute Wildschweine in Panik versetzt und aus dem Wald getrieben hatte, und die Wirkung, die er auf die Menschen hatte, die ihn sahen, war kaum weniger verheerend. Auch der Letzte der Krieger schleuderte seine Waffe davon und suchte sein Heil in der Flucht, und der Chor aus gellenden Schreien wurde noch lauter und verzweifelter. Die Erde bebte jetzt unter den Schritten hunderter von Menschen, die verzweifelt versuchten, sich irgendwie in Sicherheit zu bringen, und die Luft war erfüllt von dem Gestank von Angst und Blut, und das Ungeheuer wurde plötzlich noch schneller und schien wie ein Pfeil auf das offen stehende Tor zuzufliegen.
Seine Nüstern spien immer noch Feuer. Eines der Wildschweine wurde getroffen und ging fast schlagartig in Flammen auf, um quiekend und brennend weiter zu rennen. Wer ihm nicht schnell genug aus dem Weg sprang, der wurde niedergetrampelt, falls er nicht das Pech hatte, dass seine Kleider und sein Haar ebenfalls Feuer fingen, und auch mindestens einer von Nors Kriegern war einfach nicht schnell genug und wurde von den Flammen erfasst, die das Dämonenpferd spie. Sein Mantel stand plötzlich in hellen Flammen, und er versengte und verbrannte noch andere, während er schreiend und verzweifelt versuchte, sich des Kleidungsstücks zu entledigen und gleichzeitig auf die Flammen einzuschlagen, die auch aus seinem Bart und seinem Haupthaar züngelten.
Der Anblick ließ Arri erstarren. War es das, was das Schicksal ihr zugedacht hatte? Hatte Sarn Recht gehabt, und sie war hier, um die gerechte Strafe seiner Götter entgegenzunehmen? Vielleicht hatten sie dieses Ungeheuer geschickt, diesen Dämon, der nicht nur gekommen war, um sie zu verderben, sondern auch Sarn und alle anderen hier nachhaltig daran zu erinnern, dass es grausame und unbarmherzige Götter waren, die sie anbeteten, nicht die nachsichtigen und sanften Götter, von denen ihre Mutter immer erzählt hatte. Viel zielsicherer als die Schweine, die sich nun in der Weite des Geheges wahllos verteilten, dabei aber auch immer noch alles niedertrampelten, was sich ihnen in den Weg stellte, raste der schwarzen Dämon auf sie zu, immer noch Feuer speiend und aufwirbelnden Hufen.
Aber irgendetwas an diesem Ungeheuer... stimmte nicht. Arri konnte das Gefühl nicht in Worte fassen - dafür hatte sie viel zu große Angst -, doch an diesem Pferd war etwas nicht so, wie es sein sollte. Es kam ihr auf unheimliche Weise... bekannt vor, fast wie Nachtwind, der Hengst ihrer Mutter, nur dass dieser so unglaublich groß und wild war und dass Feuer aus seinen Nüstern kam, aber da war auch noch etwas, das sie einfach nicht begreifen konnte. Das Ungeheuer näherte sich ihr weiter, zehnmal schneller, als die Hunde oder Sarns Krieger oder auch die Wildschweine es getan hatten. Einer der Männer, die sich noch auf ihrem verzweifelten Rückzug vom Waldrand befunden hatten, stolperte hastig zurück, um nicht von den hämmernden Hufen niedergetrampelt zu werden, und für einen Moment war das schwarze Pferd zwischen ihm und Arri.
Als der Augenblick vorüber war und sie ihn wieder sehen konnte, hatte er keinen Kopf mehr.
Arri keuchte vor Schrecken, als sie sah, wie der enthauptete Mann noch einen Moment stehen blieb und dann mit haltlos pendelnden Gliedern zur Seite kippte, während sein Kopf in die andere Richtung über das Gras rollte. Das Pferd stürmte weiter heran, und ein anderer von Jamus Begleitern, der aus dem Schicksal seines Kameraden gelernt hatte, brachte sich mit einem verzweifelten Sprung in Sicherheit, und dann, plötzlich, war das Ungeheuer da, und Arri, die immer noch hilflos gefesselt zwischen den beiden Pfählen hing, konnte nichts anderes tun, als hastig den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen und zu hoffen, dass die wirbelnden Hufe sie verfehlen würden.