Sie schlugen nicht einmal nach ihr. Nachtwind - es war Nachtwind! - stieg unmittelbar vor ihr mit einem schrillen Wiehern. Seine wirbelnden Vorderbeine fuhren wie tödliche Äxte durch die Luft und sorgten dafür, dass niemand auch nur auf die Idee kam, sich in ihre Nähe zu wagen, dann schnitt etwas Helleres und Schärferes mit einem zischenden Laut durch die Luft und kappte das Seil, das ihren linken Arm hielt. Arri brach mit einem erschöpften Keuchen zusammen, aber sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig genug daran, dass sie immer noch mit der anderen Hand an den Pfahl gebunden war und der Ruck ihre verletzte Schulter wahrscheinlich nicht nur endgültig ruinieren, sondern der dazugehörige Schmerz sie vermutlich auch um den Verstand bringen würde, und sie fing ihren Sturz ungeschickt mit der plötzlich frei gewordenen Hand ab. Nachtwinds Vorderhufe peitschten immer noch durch die Luft, während sich der riesige Hengst halb auf der Hinterhand umdrehte, und erst in diesem Moment wurde Arri klar, was sie an seinem Anblick so gestört hatte.
Nachtwind war nicht durch einen Fluch in etwas Schreckliches verwandelt worden. Seine Hufe schlugen keine Funken aus dem Boden, und aus seinen Nüstern kam auch kein Feuer.
Ebenso plötzlich, wie die Vision sie ergriffen hatte, gewann der Hengst seine normale Größe zurück, und sie sah die schlanke, hell-haarige Gestalt, die sich mit einem Bein und einem Arm an seinem Rücken und Hals festklammerte, während ihre freie Hand ein blitzendes Schwert schwang, dass sich schnell und zielsicher wie ein eingefangener Sonnenstrahl auf Arris andere Fessel herabsenkte und sie so dicht über dem Handgelenk kappte, dass sie tatsächlich den Luftzug spüren konnte, den die Waffe verursachte.
Ihre Kräfte versagten nun endgültig. Arri brach zusammen, aber ihre Mutter bewegte sich plötzlich mit einer Schnelligkeit, an der nichts Natürliches mehr zu sein schien. Ohne das Schwert loszulassen, gelang es ihr irgendwie, Arris Handgelenk zu packen, sich gleichzeitig ganz auf Nachtwinds Rücken hinaufzuschwingen und den Schwung dieser Bewegung zu nutzen, um auch sie zu sich heraufzuziehen; selbstverständlich an ihrem verletzten Arm.
Wenn sie bisher gedacht hatte, die Grenze dessen erreicht zu haben, was ein Mensch ertragen konnte, so sah sie sich getäuscht. Der Schmerz war so grässlich, dass sie aufbrüllte und ihr schwarz vor Augen wurden. Sie spürte kaum, wie Lea sie rücksichtslos weiter zu sich heraufzerrte, sie irgendwie vor sich auf den Rücken des Pferdes hievte und es gleichzeitig auch noch fertig brachte, die Fackel, mit der sie die Schweine vor sich hergetrieben hatte, ins Gesicht eines Mannes zu schleudern, der klug genug gewesen war, die Wahrheit ebenso zu erkennen wie Arri, zugleich auch dumm genug, sie angreifen zu wollen. Der Krieger reagierte blitzschnell, zog den Kopf ein und entging so dem brennenden Holz, bewegte sich dabei aber so ungeschickt, dass einer von Nachtwinds Hufen seinen Schädel traf und diesen auf der Stelle zertrümmerte.
»Halt dich fest!«, schrie Lea.
Irgendwie brachte es Arri fertig, tatsächlich auf ihre Worte zu reagieren. Alles drehte sich um sie. Die Welt war zu einem Durcheinander aus zusammenhanglosen Bildern, Geschrei, Gestank und Schmerz geworden, sie hatte das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden, und ihr war unvorstellbar übel; trotzdem klammerte sie sich instinktiv mit den Schenkeln an Nachtwinds Flanken, und ihre Hände gruben sich tief in seine schwarze Mähne. Wie in einem Traum gefangen, bemerkte sie, wie ihre Mutter den Hengst in einer harten Bewegung herumzwang, ihm fast gleichzeitig die Fersen in die Seiten stieß und das Tier mit einem protestierenden Schnauben losgaloppierte.
Vielleicht stellten sich ihnen noch weitere Männer in den Weg, vielleicht auch nicht. Arri hörte nur Schreie, das Klirren von Waffen und die schrecklichen Geräusche, die sterbende Menschen von sich geben, dann waren sie irgendwie durch das Tor und auf der anderen Seite und pflügten durch eine Menschenmenge, die einfach nicht so schnell vor ihnen zurückweichen konnte, wie sie es wollte. Mehr als einer wurde unter Nachtwinds wirbelnden Hufen zu Tode getrampelt, und die wenigen, die dumm oder verzweifelt genug waren, sich ihrer Mutter entgegenzustellen, fielen unter den wuchtigen Hieben ihres Schwertes.
Und dann war es vorbei. Plötzlich, von einem Atemzug auf den anderen, war niemand mehr da. Die Schreie wurden leiser und hörten dann ganz auf, und als hätte die Wirklichkeit plötzlich Löcher bekommen, über die der riesige Hengst einfach hinwegsetzte, waren mit einem Male auch das Gehege und das Langhaus verschwunden, und sie sprengten, schnell wie ein fliegender Pfeil, einen gewundenen Weg hinab, der sich zwischen dicht an dicht stehenden Bäumen und wucherndem Unterholz hindurchschlängelte.
»Halt dich fest!«, schrie ihre Mutter noch einmal. »Wir haben es gleich geschafft!«
Die Welt begann sich immer schneller um Arri zu drehen. Barmherzigerweise erloschen die Schmerzen in ihrem Körper nach und nach, nicht aber die Übelkeit, und sie spürte eine große, allumfassende Dunkelheit, die langsam unter ihren Gedanken heranwuchs. Es fiel ihr immer schwerer, sich mit Beinen und Händen an Nachtwind zu klammern. Irgendetwas stimmte mit ihren Augen nicht, denn sie sah plötzlich nur noch verschwommen, und was sie sah, hatte doppelte oder gar dreifache Umrisse. Dann erlosch auch die Angst. Alles wurde leicht.
»Kannst du noch?«, fragte Lea alarmiert.
»Selbstverständlich, mach dir keine Sorgen«, antwortete Arri und fiel in Ohnmacht.
33
Allzu lange konnte sie nicht bewusstlos gewesen sein, denn das Nächste, was sie wahrnahm, war ein schmerzhaftes Hantieren und Zupfen an ihrem rechten Bein, mit dem ihre Mutter einen Streifen Stoff um die Schnittwunde wickelte, die Jamu ihr zugefügt hatte. Ihr anderes Bein war noch unversorgt und blutete, wenn auch nicht mehr annähernd so heftig wie zuvor.
»Bleib ruhig«, sagte Lea, ohne auch nur den Blick zu heben. Sie musste gespürt haben, dass Arri aufgewacht war. »Ich bin gleich fertig.«
Arri hätte sich nicht einmal dann rühren können, wenn sie es gewollt hätte. Auch wenn die allerschlimmsten Schmerzen verklungen waren, so schien es doch zugleich an ihrem ganzen Körper nicht eine Stelle zu geben, die nicht irgendwie wehtat, und sie hatte das sichere Gefühl, dass es sofort schlimmer werden würde, sobald sie den Fehler beging, auch nur die allerkleinste Bewegung zu versuchen. Vielleicht, dachte sie, wurde es endlich Zeit, dass sie damit anfing, auf ihre Mutter zu hören, und einfach hier liegen blieb; am besten bis zum nächsten Frühjahr.
Klaglos, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, ließ sie Leas Bemühungen über sich ergehen und lenkte sich damit ab, den von größtenteils schon blattlosen Ästen eingerahmten Ausschnitt des Himmels über sich zu betrachten. Ganz, wie Lea es versprochen hatte, benötigte sie nur noch wenige Augenblicke, um ihr Bein zu versorgen und den Verband nach einer letzten Überprüfung so fest zu ziehen, dass es beinahe so wehtat wie vorher. Dann stand sie auf, ging in einem umständlichen großen Bogen um Arianrhod herum, obwohl sie ebenso gut einfach einen Schritt über sie hinweg hätte tun können, und nur einen Augenblick später ertönte das typische Geräusch von reißendem Stoff. Ohne sie noch einmal vorzuwarnen, kümmerte sie sich jetzt um die Wunde an ihrem anderen Bein, was fast noch mehr wehtat.
Immerhin spürte Arri aber auch, dass sie jetzt nicht mehr so stark blutete wie zuvor. Wie schnell sich die Dinge doch änderten, dachte sie. Es war noch nicht lange her, da hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als schnell und schmerzlos zu verbluten; jetzt war ihr klar, dass sie jeden einzelnen Tropfen der roten Lebenskraft, die aus ihr herausgelaufen war, bitter nötig hatte.