»Was habt ihr?«, drang Dragosz’ Stimme zu ihnen. Er hatte Sturmwind dicht vor dem Eingang des Hohlweges angehalten und reckte in dem vergeblichen Versuch den Hals, irgendetwas zu erkennen.
»Nichts«, antwortete Lea. Arianrhod fragte sich allerdings, warum der Blick ihrer Mutter dabei so misstrauisch den weiteren Verlauf des Hohlweg abtastete und vor allem seine Wände - und warum sich ihre Hand wieder auf den Schwertgriff gelegt hatte. Lea fuhr dennoch fort: »Nachtwind ist voller Unruhe. Ich glaube, es machte ihm keine Freude, über diesen Boden zu laufen.«
Vielleicht war die Erklärung tatsächlich so einfach, dachte Arianrhod. Diese Tiere waren ausgezeichnete Läufer, die eine geradezu phantastische Geschwindigkeit entwickeln konnten, wenn der Boden einigermaßen eben und frei von Hindernissen war. Auf diesem Gewirr von Fallstricken und tückischen Gruben hingegen musste jeder Schritt für den Hengst nahezu lebensgefährlich werden. Jedenfalls redete sie sich ein, dass das die nahe liegendste Erklärung war.
»Du sitzt besser auch ab«, fuhr Lea fort, sah jedoch nicht zu Dragosz zurück, sondern konzentrierte sich weiter und wie es schien noch misstrauischer auf das Stück Weg, das vor ihnen lag. Sie konnten nicht allzu viel davon überblicken. Der Weg wurde nicht nur tiefer und er hatte ein zunehmendes Gefälle, sondern machte vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte vor ihnen auch einen scharfen Knick nach links, hinter dem sich alles Mögliche verbergen konnte; vielleicht aber auch gar nichts.
Sie konnten hören, wie Dragosz von Sturmwinds Rücken glitt und das Pferd für einen Moment erleichtert zu tänzeln begann. Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich zwischen dem Leib des Tieres und der rauen Wand hindurchzuquetschen, ohne dabei mehr als einige Haare und ein paar Fetzen seines Umhangs einzubüßen. Sein Atem ging schwer, als er neben ihnen anlangte, und obwohl es trotz der fortgeschrittenen Tageszeit noch immer empfindlich kalt war, glänzte seine Stirn vor Schweiß. Arianrhod fragte sich, ob er Angst hatte. Und wenn ja, wovor. Aber vielleicht hatte ihn das Reiten so angestrengt. Auch ihr Herz klopfte, als wäre sie die ganze Strecke gerannt, und sie zitterte jetzt schon so lange am ganzen Leib, dass sie es kaum noch merkte. Reiten mochte eine sehr schnelle Art sein, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, aber auch eine sehr anstrengende; zumindest, wenn man sie nicht gewohnt war. Unauffällig musterte sie ihre Mutter. Lea sah so krank und erschöpft aus wie vorhin, aber ihr Atem ging ruhig, und auf ihrer Stirn war nicht ein einziger Schweißtropfen zu erkennen. Ganz offensichtlich waren die Verletzungen, die sie bei dem erbitterten Kampf gegen die Krieger Gosegs davongetragen hatte, nicht ganz so arg gewesen, wie Arianrhod befürchtet hatte. Und trotzdem... das Gefühl, dass sich Lea zusammenreißen musste, um durchzuhalten und keine Schwäche zu zeigen, verflog nicht, sondern verdichtete sich für sie eher zu einer Gewissheit.
Ein leises Geräusch riss sie aus ihren Gedanken, und als sie sich umwandte, sah sie, dass sich Dragosz’ Hand ebenfalls fest um den Griff seiner Waffe schloss, während er sich nach vorn beugte und misstrauisch den Hohlweg hinabspähte. »Wohin führt dieser Weg?«
»Keine Ahnung«, gestand Lea.
Dragosz wandte überrascht den Kopf. »Wie bitte?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte Lea in leicht gereiztem Ton. Sie streichelte Nachtwinds Nüstern, was der Hengst mit einem zufriedenen Schnauben kommentierte, aber Arianrhod war plötzlich nicht mehr ganz sicher, wen sie damit eigentlich beruhigen wollte: das Pferd oder sich selbst.
»Hast du nicht gesagt, dass du den Weg kennst?«, fragte Dragosz.
»Ich habe gesagt, dass ich den Weg weiß«, verbesserte ihn Lea schnippisch. »Kron hat ihn mir beschrieben, und ich kenne auch den Platz, an dem wir uns treffen. Ich selbst war noch nie hier.«
Arianrhod sah ihre Mutter ziemlich verwirrt an, während Dragosz sichtbare Mühe hatte, seine Wut zu beherrschen. »Und er hat nichts von dem hier gesagt?«
Abermals schüttelte Lea den Kopf, diesmal so heftig, dass ihr Haar flog und Arianrhod hastig ein Stück zurückwich, um nicht getroffen zu werden. »Er hat gesagt, dass es für ein kleines Stück vielleicht ein bisschen schwierig wird. Mehr nicht.«
»Ein bisschen schwierig.« Dragosz wandte sich wieder nach vorne und sah demonstrativ den steil abfallenden Weg hinab. »Ja, ich glaube, so könnte man es nennen.« Er schwieg wieder einen Moment, dann fügte er in versöhnlicherem, auch eindeutig besorgtem Ton hinzu: »Glaubst du, dass die Pferde es schaffen?«
Leas Antwort erfolgte nicht so schnell, wie Arianrhod es sich gewünscht hätte, und dazu kam, dass Nachtwind ein Schnauben ausstieß, das sich eindeutig wie eine Verneinung anhörte, und noch dazu eine Bewegung machte, die nicht nur wie ein Kopfschütteln aussah, sondern sicher eines war. Allmählich begann ihr der Hengst unheimlich zu werden. »Ich denke schon«, antwortete Lea zögernd. »Falls es weiter vorne nicht noch schlimmer wird, heißt das.«
Das war anscheinend nicht das gewesen, was Dragosz hatte hören wollen. Er schwieg eine ganze Weile dazu, dann sah er kurz und besorgt Lea und etwas länger und eindeutig mehr als etwas besorgt den schwarzen Hengst an und murmelte: »Diese Schlucht ist eine verdammte Falle, selbst wenn dort vorn niemand auf uns wartet. Sie ist viel zu schmal, als dass die Pferde hier kehrtmachen könnten. Wartet hier.«
Er ließ Lea keine Zeit zu protestieren oder ihn gar von seinem Vorhaben abzubringen, sondern zog seine Waffe und ging los. Seine Frage, ob die Pferde auf diesem unsicheren Untergrund überhaupt laufen konnten, bekam eindeutig mehr Gewicht, kaum dass er die ersten Schritte gemacht hatte. Selbst ihm fiel es sichtlich schwer, sich auf dem Gewirr aus ausgetrockneten Ranken und zähen Wurzeln aufrecht zu halten, und einmal brach sein Fuß in ein Kaninchenloch oder irgendeine andere tückische Fallegrube ein, die unter den Pflanzenteppich verborgen gewesen war, und er konnte nur mit mehr Glück als Geschick einen Sturz verhindern. Als er die Biegung erreichte, zögerte er für einen winzigen Moment, gab sich dann aber einen Ruck und ging schnell weiter.
»Ist das der einzige Weg, den du kennst?«, fragte Arianrhod.
Ihre Mutter, die anscheinend eine Kritik in dieser Frage gehört hatte, die Arianrhod ganz und gar nicht im Sinn gehabt hatte, blickte sie finster an und schüttelte erst nach einer ganzen Weile den Kopf. »Nein«, sagte sie knapp.
»Und warum nehmen wir ihn dann?«
»Wir können mit den Pferden nicht quer durch den Wald laufen«, sagte Lea knapp. »Das wäre genauso gefährlich wie das hier.«
»Aber so schnell, wie wir geritten sind«, wunderte sich Arianrhod, »können sie uns doch niemals einholen.«
Lea setzte zu einer offenkundig scharfen Antwort an, riss sich dann aber im letzten Moment zusammen und machte ein bedauerndes Gesicht, statt sie zurechtzuweisen. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Sarns Krieger werden quer durch die Wälder laufen, während wir darauf angewiesen sind, auf dem Weg zu bleiben. Du hast Recht - wir waren viel schneller als sie, aber wir haben auch einen großen Umweg gemacht. Ich fürchte, unser Vorsprung ist nicht so groß, wie ich es mir gern einbilden würde.«
Arianrhod wollte antworten, doch in diesem Augenblick kam Dragosz zurück. Immerhin hatte er sein Schwert eingesteckt, wie Arianrhod beruhigt feststellte, aber auf der anderen Seite mochte das auch schlichtweg an der Tatsache liegen, dass es ihm nun, bergauf, noch viel schwerer fiel, auf dem tückischen Boden zu gehen und er beide Arme ausgestreckt hatte, um sich rechts und links an den Wänden des Hohlwegs festzuhalten.