»Nun?«, fragte Lea ungeduldig, kaum dass er auf Hörweite heran war. Dragosz antwortete nicht, sondern kam erst ganz zu ihnen zurück, bevor er aufsah und den Kopf schüttelte. »Es scheint alles in Ordnung zu sein. Der Weg wird hinter der Biegung noch ein wenig steiler, aber es ist nur noch ein kleines Stück. Ich glaube, die Pferde könnten es schaffen.« Das Wort könnten gefiel ihrer Mutter ganz und gar nicht, das sah Arianrhod überdeutlich, und Lea zögerte auch noch eine Weile, bevor sie schließlich - schweren Herzens - nickte und Nachtwinds Zügel ergriff. »Also gut«, seufzte sie. »Versuchen wir es. Vielleicht sind die Götter ja ausnahmsweise einmal auf unserer Seite.«
Arianrhod wollte sich ihnen anschließen, aber Lea schüttelte heftig den Kopf und scheuchte sie mit einer heftigen Geste zurück. »Du bleibst ganz hinten, noch hinter Sturmwind.«
»Warum?«, begehrte Arianrhod auf.
»Irgendjemand muss doch schließlich unseren Rücken decken, falls Sarns Krieger auftauchen und uns angreifen«, antwortete Lea spitz, schüttelte aber auch gleichzeitig den Kopf und sagte dann, hörbar leiser und besorgt: »Falls eines der Pferde auf diesem Untergrund stürzt, könnte es gefährlich werden. Und jetzt geh. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Schon aus Prinzip zögerte Arianrhod noch einmal zu gehorchen, wandte sich aber dann doch um und ging das kurze Stück des Weges wieder zurück. Als sie an Dragosz vorbeikam, schenkte er ihr ein flüchtiges, allerdings sehr warmes Lächeln - und doch war an dem Blick, mit dem er sie maß, etwas, das ihr nicht gefiel. Es war ein bisschen von dem darin, was sie auch in Jamus Augen gelesen hatte, natürlich nicht annähernd so anzüglich und boshaft, aber es war darin.
Hastig und mit einem heftigen Gefühl schlechten Gewissens verscheuchte sie den Gedanken. Sie musste aufpassen, nicht in jedem Mann einen Feind zu sehen, nur weil sich einige davon als solche erwiesen hatten. Immerhin hatte Dragosz sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das ihre zu retten. Aber ein ganz schwacher, schaler Nachgeschmack blieb auf ihrer Zunge zurück.
Gehorsam ging sie auch an Sturmwind vorbei, um ihren Platz am Ende der kleinen Kolonne einzunehmen. Die Stute beäugte sie misstrauisch. Arianrhod kannte sie fast so gut wie Nachtwind, aber Sturmwind hatte niemals wirklich Freundschaft mit ihr geschlossen. Ganz anders als der Hengst oder gar Morgenwind, seine Tochter, hatte sie stets einen gewissen Abstand zu ihr gewahrt und sie bestenfalls in ihrer Nähe geduldet. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass sich die Stute auch ihr gegenüber nicht anders verhielt, und lachend hinzugefügt, dass sie wahrscheinlich eifersüchtig sei. Arianrhod hatte das für einen Scherz gehalten, aber jetzt war sie sich nicht mehr ganz sicher. Vorsichtshalber legte sie einen deutlich größeren Abstand zwischen sich und das Pferd, als nötig gewesen wäre. Nur für den Fall, das Sturmwind erschreckte und nach hinten austrat. Man konnte schließlich nie wissen.
Auch Dragosz trat erschrocken zurück und griff nach den Zügeln der Stute. Sie ließ es geschehen, wieherte aber unwillig und sträubte sich im allerersten Moment, als er sie zwingen wollte, in die schmale Schlucht hineinzugehen, gehorchte dann aber schließlich doch.
Der Abstieg verlief quälend langsam. Ihrer Mutter setzte unendlich behutsam einen Fuß vor den anderen und achtete auch aufmerksam darauf, wohin Nachtwind trat; zumindest mit den Vorderläufen. Zwei- oder dreimal hielt sie ihn fast gewaltsam an den Zügeln zurück, und einmal führte sie das Pferd so dicht an der Wand entlang, um irgendeinem Hindernis auszuweichen, dass die rauen Wurzeln sein Fell zerkratzten. Als Dragosz und Sturmwind die gleiche Stelle passierten, geschah nichts, aber Arianrhod nahm an, dass ihre Mutter ihre Gründe gehabt hatte, so zu verfahren.
Darüber hinaus war sie selbst voll und ganz damit beschäftigt, sich einen einigermaßen gangbaren Weg zu suchen. Anders als Dragosz und ihre Mutter trug sie keine Schuhe, und sie hatte auch keine Hufe wie die Pferde, und der Pflanzenteppich, der den Boden des Hohlwegs bedeckte, war nicht annähernd so weich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Das Gehen darauf war nicht nur mühsam, sondern tat weh, und noch bevor sie die Biegung erreicht hatten, waren ihre Füße längst aufgeschürft und blutig. Und das war bei weitem nicht alles. Ihr Unbehagen wuchs von Augenblick zu Augenblick. Etwas wie eine unsichtbare Drohung lag über dem Hohlweg, das düstere Versprechen, dass sie hier nie mehr herauskäme, dass sie geradewegs in eine Falle lief, und mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an Sarns Greisenhand, die ihr Handgelenk im Steinkreis vollkommen unerwartet gepackt hatte, so als hätte er sich nicht an sie angeschlichen, sondern wäre plötzlich aus dem Nichts heraus erschienen, um sie mit sich ins Verderben zu reißen...
Wer sagte ihr, dass nicht auch hier Sarn plötzlich wieder auftauchte?
Arianrhod versuchte den beunruhigenden Gedanken zu verscheuchen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Schließlich blieb Lea an der gleichen Stelle stehen, an der Dragosz vorhin außer Sicht verschwunden war, und drehte sich zu ihnen um. »Wartet kurz.« Ohne ihre Worte zu erklären, ließ sie Nachtwinds Zügel los, verschwand für einen Augenblick hinter der Biegung und sah sehr besorgt aus, als sie zurückkam. »Wartet hier, bis ich unten bin. Ich rufe euch.«
Sie ergriff Nachtwind - diesmal mit beiden Händen - am Zügel und ging sehr viel langsamer als bisher los. Unendlich behutsam, wie es Arianrhod vorkam, führte sie den Hengst um die Biegung und war schließlich aus ihrem Blickfeld verschwunden. Arianrhod fühlte sie schlagartig allein und im Stich gelassen. Das Gefühl war völlig unangebracht, wurde aber binnen eines einzigen Augenblickes so stark, dass sie es nicht mehr aushielt. Ohne auch nur noch an das zu denken, was ihre Mutter ihr befohlen hatte, ging sie weiter, quetschte sich an Sturmwind vorbei und bedeutete auch Dragosz mit einer Geste, ihr Platz zu machen. Er gehorchte zwar, legte aber missbilligend die Stirn in Falten. Arianrhod rechnete fast damit, dass er sie aufhalten würde, doch er versuchte nichts dergleichen. Nach ein paar weiteren Schritten hatte auch sie die Biegung erreicht und riss überrascht die Augen auf.
Der Weg war tatsächlich nicht mehr sehr lang; vielleicht noch zwei Dutzend Schritte, bevor die Wände wieder auseinander wichen und der flache Uferstreifen eines schmalen, wenn auch reißend dahinfließenden Baches unter ihnen lag. Dafür fragte sich Arianrhod jedoch, was Dragosz eigentlich unter ein wenig steiler verstehen mochte. Das letzte Stück Weg war kein Weg mehr, sondern ein steiler Abhang, den sie allerhöchstem auf Händen und Knien kriechend zurückgelegt hätte, und selbst das ganz bestimmt nicht freiwillig. Ihre Mutter und Nachtwind hatten gerade mal ein winziges Stückchen dieses Weges zurückgelegt - hätte Arianrhod sich vorgebeugt und den Arm ausgestreckt, hätte sie den Hengst vermutlich noch berühren können.
Lea hatte die linke Hand vom Zügel des Hengstes gelöst und suchte damit Halt an den Luftwurzeln und Moossträngen, die aus der Wand herauswuchsen, und ihre Haltung war so angespannt und verkrampft, als wolle sie das gesamte Gewicht des Tieres mit ihrer Kraft halten. Nachtwind bewegte sich unsicher. Von seiner Anmut und Kraft war nichts geblieben, das Tier zitterte vor Angst, und obwohl es nur mit winzigen, fast schlurfenden Schritten von der Stelle kam, drohte es immer wieder auszurutschen.
Arianrhod hatte das Gefühl, hier wegzumüssen, jetzt und sofort. Es war beinahe so, als könnte sie Sarns unsichtbaren Griff an ihrem Handgelenk spüren und als hörte sie das hämische Lachen, mit dem er ihre lächerliche Versuche bedachte, der von ihm gestellten Falle zu entgehen, bevor sie endgültig zuschnappte. Sie überlegte nur kurz, dann tat sie etwas, wofür ihre Mutter ihr vermutlich den Kopf abgerissen hätte, hätte sie es in diesem Augenblick gesehen. Ohne auf den protestierenden Laut zu achten, den Dragosz hinter ihr von sich gab, ging sie hinter Nachtwind und ihrer Mutter her und quetschte sich auf der anderen Seite am Leib des Pferdes vorbei. Der Finger, den ihr Jamu gebrochen hatte, reagierte auf jede zu hastige Berührung mit einem messerscharfen Schmerz, und ihre Schulter begann dumpf zu pochen, aber das nahm sie nur ganz am Rande war. Mit der linken Hand griff sie nach dem, was ihre Mutter wohl als Zaumzeug bezeichnete, während sie es mit der rechten Lea gleichtat und Halt an allem suchte, was aus der Wand neben ihr herauswuchs. Nachtwind schnaubte überrascht, und auch ihre Mutter warf ihr einen erstaunten Blick zu, sagte aber zu Arianrhods Verwunderung nichts. Wahrscheinlich, dachte sie, hob sie sich die Standpauke auf, bis sie unten angekommen waren. Falls sie es schafften.