Mehr als einmal in der schier endlosen Zeit, in der sie sich Schritt für Schritt und unendlich vorsichtig weitertasteten, zweifelte Arianrhod ernsthaft daran. Selbst ihr fiel es immer schwerer, das Gleichgewicht zu bewahren, und der Hengst begann jetzt immer heftiger zu zittern. Arianrhod konnte seine Angst riechen. Ohne es im ersten Moment selbst zu merken oder gar zu wissen, warum sie es tat, begann sie mit leiser, beruhigender Stimme auf das Pferd einzureden, sinnlose Worte, die mindestens ebenso sehr ihrer eigenen Beruhigung galten wie der des Hengstes. Obwohl sie zu helfen schienen, blieb das Tier unruhig. Seine Ohren zuckten jetzt ununterbrochen, und sie konnte hören, wie sein Schweif rechts und links gegen die Wände schlug. Manchmal lösten sich kleine Erdbrocken oder Steinchen unter seinen Hufen und eilten ihnen wie winzige Lawinen voraus, und einmal glitt der Hengst tatsächlich aus, als ein trockener Ast unter seinem Gewicht mit einem peitschenden Knall zerbrach und er vor Schreck einen Fehltritt machte.
Arianrhod und ihre Mutter warfen sich mit aller Kraft gegen den Hengst, hielten sein Zaumzeug fest und versuchten sein Gewicht mit ihren eigenen Körpern zu stützen. Arianrhod spürte selbst, wie lächerlich das war. Der Hengst musste so viel wiegen wie vier oder fünf große Männer - aber das Wunder geschah. Vielleicht war es einfach das Gefühl, dass jemand an seiner Seite war und ihm half, welches Nachtwind die Kraft gab, sein Gleichgewicht wieder zu finden. Das Tier stürzte nicht, sondern fand in einen einigermaßen sicheren Schritt zurück, und sie bewältigten den Rest der Strecke ohne weitere Zwischenfälle.
Vollkommen außer Atem und an Körper und Geist erschöpft, ließ Arianrhod die Zügel los, taumelte ein paar Schritte zur Seite und musste sich vorbeugen und die Hände auf die Oberschenkel stützen, um nicht einfach zusammenzubrechen. Alles drehte sich um sie. Ihr Puls raste, und die Luft, die sie atmete, schmeckte so scharf, als wäre sie voller winziger Eissplitter. Sie bemerkte aus den Augenwinkeln, dass es ihrer Mutter nur wenig besser erging, und auch Nachtwind drohte plötzlich zu straucheln, obwohl er jetzt wieder festen und vor allem ebenen Boden unter den Hufen hatte.
Während der Hengst mit zwei, drei ungeschickten Schritten zum Bach hinunterging und geräuschvoll zu saufen begann, kam ihre Mutter zu ihr. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.
Arianrhod richtete sich mühsam wieder auf. »Ja«, log sie. »Ich war nur...«
»Das war sehr klug von dir«, fiel ihr Lea ins Wort. »Und ziemlich tapfer - auch wenn es nicht unbedingt das war, was ich meinte, als ich gesagt habe, du sollst hinter uns bleiben.« Sie machte eine rasche Handbewegung, als Arianrhod sich verteidigen wollte, und lächelte plötzlich. »Woher hast du gewusst, was du zu tun hast?«
Arianrhod war so verblüfft, keine Vorhaltungen von Lea zu hören, dass sie im ersten Moment gar nicht antwortete, sondern aufmerksam im Gesicht ihrer Mutter zu lesen versuchte, ob diese Worte nicht vielleicht nur die Vorbereitung für einen ganz besonders scharfen Verweis waren. Alles, was sie jedoch in den Augen ihrer Mutter erblickte, war ein Ausdruck, den sie eindeutig als Stolz bezeichnet hätte, wäre ihr auch nur der geringste Grund dafür eingefallen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich dachte einfach, dass es das Richtige wäre.« Was auch nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. Um genau zu sein, hatte sie überhaupt nichts gedacht, sondern war einfach ihrem Gefühl gefolgt.
Der Ausdruck von müdem Stolz in Leas Augen nahm noch zu. »Aus dir wird eines Tages eine großartige Reiterin werden«, sagte sie unvermittelt. Dann schüttelte sie den Kopf, streckte den Arm aus, um ihn Arianrhod um die Schulter zu legen, und führte sie zum Wasser.
Nur ein kleines Stück oberhalb der Stelle, an der Nachtwind immer noch dastand und sein Möglichstes tat, um den gesamten Bach auszusaufen, ließen sie sich auf die Knie sinken. Arianrhod schöpfte zwei, drei Hände voll des eiskalten Wassers, um sich das verschwitzte Gesicht zu waschen, ließ anschließend eine weitere Hand voll in ihren Nacken tropfen und genoss den eisigen Schauer, der ihr über den Rücken lief. Erst dann beugte sie sich weiter vor, hielt mit beiden Händen ihr Haar zurück und stillte ihren Durst. Das Wasser war kristallklar und köstlicher als alles, was sie jemals zuvor getrunken hatte, und schon nach den ersten Schlucken konnte sie Nachtwind verstehen und versuchte es ihm gleichzutun, obwohl ihr klar war, dass sie es wohl auch in dieser Disziplin nicht mit ihm aufnehmen konnte. Aber sie trank so lange und ausgiebig, bis sie das Gefühl hatte, platzen zu müssen, und auch tatsächlich keine Luft mehr bekam. Erst dann richtete sie sich auf, schöpfte noch einmal eine Hand voll Wasser aus dem Bach und rieb sich damit das Gesicht ab.
»Das hat gut getan«, seufzte Lea, während sie sich neben ihr in eine bequemere Haltung sinken ließ. Ihr Gesicht und ihr Haar glänzten vor Nässe und sahen jetzt eindeutig frischer aus, und obwohl sie noch immer schwer atmete und man ihr die Anstrengung ansah, die ihr die letzten Minuten abverlangt hatten, war es Arianrhod doch gleichzeitig, als hätte sie irgendwie an Kraft gewonnen. »Es ist schon erstaunlich, wie kostbar manchmal die einfachsten Dinge des Alltags werden können, nicht wahr?«, meinte sie. »Wie zum Beispiel ein Schluck klares Wasser.«
»Alles ist kostbar, wenn man es braucht und nicht hat«, sagte Arianrhod.
Lea lachte leise. »Habe ich schon gesagt, dass du einmal eine sehr kluge Frau wirst?«
»Nein«, antwortete Arianrhod wahrheitsgemäß. »Du hast gesagt, dass ich einmal eine sehr gute Reiterin werde.«
»Vorlaut bist du jedenfalls jetzt schon«, gab Lea zurück. »Habe ich das schon einmal gesagt?«
Arianrhod nickte. »Mehrmals.«
Ihre Mutter lachte erneut und sah für einen Moment fast wieder so jung und voller Kraft aus, wie Arianrhod sie in Erinnerung hatte. Aber nur fast. »Ich glaube, jetzt haben wir es geschafft«, sagte sie. »Wenn Kron die Wahrheit gesagt hat, dann erspart uns diese Abkürzung die Gefahr, in einen Hinterhalt zu geraten.«
Arianrhod legte den Kopf schräg. »Abkürzung?«, wiederholte sie. »Dann ist es nicht der Weg, den er dir beschrieben hat?«
»Doch«, behauptete Lea verschmitzt. »Auch.«
Arianrhod zog es vor, nicht weiter zu bohren, und das nicht nur, weil sie diesen viel zu seltenen Augenblick nicht zerstören und ihre Mutter verärgern wollte, sondern auch, weil sie das sichere Gefühl hatte, dass ihr die Antwort auf jedwede weitere Frage nicht gefallen würde. »Dann sollten wir vielleicht weitergehen«, sagte sie stattdessen, und plötzlich war die Furcht wieder da - die Furcht davor, dass Sarns Falle letztlich doch noch zuschnappen könnte.
»Ja«, pflichtete ihr Lea bei. »Sobald Dragosz da ist.« Sie drehte den Kopf, um nach ihm Ausschau zu halten, doch zumindest auf dem Teil des Weges, den sie von hier unten aus überblicken konnten, war nichts von ihm zu sehen.
»Dragosz!«, rief sie laut. Sie bekam tatsächlich eine Antwort, aber sie konnten nur Dragosz’ Stimme verstehen, nicht die Worte. Lea schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Männer!«, murmelte sie, stemmte sich ächzend in die Höhe und ging wieder zum Ausgang des Hohlweges zurück. Arianrhod folgte ihr, und aus ihrer Furcht drohte etwas anderes, Schlimmeres zu werden.