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Sie hätte es besser nicht getan. Ihn zu berühren war genau wie das letzte Mal, nur ungleich intensiver. Sie verspürte ein rasches, eisiges Frösteln, das ihr nicht nur über den Rücken lief, sondern ihren ganzen Körper erschauern ließ, und auch Dragosz fuhr fast erschrocken zusammen und zog unwillkürlich den Arm wieder zurück; als wären ihre Finger plötzlich glühend heiß gewesen. Einen Atemzug lang starrte er nur auf sein Handgelenk hinab, dort, wo ihn ihre Finger berührt hatten, dann hob er den Kopf und blickte ihr direkt ins Gesicht, und dieser Blick war noch viel, viel schlimmer als seine Berührung.

Arianrhods Gefühle waren von einem Augenblick zum nächsten in hellem Aufruhr. Plötzlich verspürte sie das absurde Bedürfnis, ihn zu umarmen und seine Wärme und seine Kraft zu spüren, ganz nahe, aber gleichzeitig machte sich ihr schlechtes Gewissen auch schon fast körperlich bemerkbar.

»Ich... entschuldige«, stammelte sie. »Das... das wollte ich... nicht.«

»Was?«, fragte Dragosz. Auch er wirkte verwirrt und schien für einen Moment in sich hineinzulauschen, machte aber danach nur einen noch unsichereren Eindruck; als hätte er sich selbst eine Frage gestellt und wüsste nun nicht so recht, was er mit der Antwort anfangen sollte. Sein Blick blieb für etliche Sekunden auf Arianrhods Gesicht hängen und wanderte dann an ihrer Gestalt hinab, und ganz plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, dass sie nur den Umhang trug, den ihre Mutter ihr um die Schultern gelegt hatte, und darunter nichts, und dass sie ihn auch nicht vollständig geschlossen hatte. Hastig raffte sie den groben Stoff mit der linken Hand zusammen und spürte selbst, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Und - es erschien ihr fast absurd, aber es war so - auch Dragosz war die Situation mit einem Male peinlich. Er schien plötzlich nicht mehr zu wissen, wohin mit seinem Blick. »Vielleicht sollten wir deiner Mutter... helfen«, sagte er ungelenk.

»Sie hat mich weggeschickt«, antwortete Arianrhod, wobei ihre Stimme ebenso unbeholfen klang wie die seine. »Sie meint wohl, dass unser Anblick das Pferd nur unruhig macht.«

»Unruhig«, sagte Dragosz, »macht es mich vor allem, wenn ich nicht weiß, was geschieht.« Sein Blick tastete wieder über ihr Gesicht, wobei er aber sorgfältig ihre Augen ausließ, und wanderte dann noch einmal an ihrer Gestalt herab. Arianrhod hielt den Umhang fest mit der Hand zusammen, hatte aber trotzdem das Gefühl, nackt zu sein. Er hatte Dinge gesehen, die er nicht sehen sollte. Schließlich rettete sich Dragosz in ein verlegenes Lächeln, drehte mit einem Ruck den Kopf weg und tat so, als hätte er am Waldrand auf der anderen Seite des Baches etwas entdeckt. »Es tut mir Leid, wenn ich gerade ein bisschen grob war. Ich bin etwas... angespannt.«

»Warum?«, fragte Arianrhod. »Nur, weil du gerade ein halbes Dutzend von Gosegs besten Kriegern getötet hast?« Sie schüttelte heftig den Kopf und bemühte sich, ein möglichst unschuldiges Gesicht zu machen, als Dragosz sich wieder zu ihr umdrehte und sie verblüfft ansah. »Oder weil Jamu, all seine verbliebenen Krieger und jeder Mann, der auch nur einen Knüppel halten kann, hinter uns her sind, um uns bei lebendigem Leibe den Hunden zum Fraß vorzuwerfen? Du wirst doch nicht etwa Angst haben? Ein so großer Krieger wie du?«

Dragosz versuchte vergeblich in ihrem Gesicht zu lesen. Schließlich rettete er sich in ein verunglücktes Lachen, aber es klang nicht einmal so, als könne es ihn selbst überzeugen. »Ich fürchte, so leicht ist es nicht, Arri.«

»Arianrhod«, verbesserte sie ihn. »Mein Name ist Arianrhod.«

Dragosz hob die Schultern. »Arianrhod, ja. So, wie der Name deiner Mutter nicht Lea ist, sondern Leandriis, ich weiß.« Er schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass euer Volk untergegangen ist. Bei all der Zeit, die ihr gebraucht haben müsst, um eure komplizierten Namen auszusprechen, ist euch wahrscheinlich keine Zeit mehr geblieben, um irgendetwas anderes zu tun.«

Arianrhod wusste nicht, ob sie darüber lächeln sollte oder nicht. Dragosz versuchte nur einen Scherz zu machen, um die peinliche Situationen zu überspielen, aber wie immer, wenn jemand über die untergegangene Heimat ihrer Mutter sprach, verspürte sie einen dumpfen Schmerz, gepaart mit einem völlig widersinnigen Gefühl von Verlust. Das sollte nicht so sein. Sie kannte diese untergegangene Welt nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, und sie hatte längst begriffen, dass das, wovon Lea berichtete, wohl nicht die wirkliche Welt gewesen war, an die sie sich erinnerte, sondern nur das, woran sie sich erinnern wollte: ein in Gold gegossenes und poliertes Abbild einer Welt, die in Wahrheit bestimmt ebenso viele Schattenseiten gehabt und Schrecken gekannt hatte wie diese hier. Dennoch war es so, und es schien sogar schlimmer zu werden, statt besser; als fühlte sich ein Teil von ihr verpflichtet, stellvertretend für ihre Mutter zu trauern. Aber sie machte keine entsprechende Bemerkung, sondern tröstete sich mit dem Gedanken, dass Dragosz genau wie sie einfach nur plapperte, um überhaupt etwas zu sagen und die Stille auf diese Weise nicht übermächtig werden zu lassen.

Schließlich ertrugen sie es beide nicht mehr, wandten sich wie auf ein gemeinsames, unhörbares Kommando hin um und gingen zum Hohlweg zurück.

Lea und das Pferd hatten mittlerweile gut die Hälfte der Strecke zurückgelegt, was Arianrhod zwar mit Erleichterung bemerkte, ihr aber auch gleichzeitig sagte, dass es noch viel mühsamer für ihre Mutter sein musste, die widerstrebende Stute zu führen, als es vorhin mit Nachtwind der Fall gewesen war. Obwohl Dragosz und sie sich alle Mühe gaben, nicht den geringsten Laut zu verursachen, und Lea weiter rückwärts ging und nicht zu ihnen herabsah, spürte Arianrhod, dass sie von ihrer Anwesenheit wusste, aber sie verzichtete darauf, sie abermals zu verjagen. Unendlich langsam und Schritt für Schritt und dabei ununterbrochen mit leiser, beruhigender Stimme auf das Tier einredend, führte sie Sturmwind nach unten.

Auf dem allerletzten Stück wäre es beinahe doch noch zu einem Unglück gekommen. Es war Lea, die ausglitt und den Halt verlor, nicht die Stute. Sie stolperte, drohte zu stürzen und beging den Fehler, sich nun ihrerseits an Sturmwinds Zaumzeug festzuhalten. Das Tier stieß ein erschrockenes Wiehern aus und machte einen gewaltigen Satz, mit dem es das letzte Stück des abschüssigen Weges überwand und so nahe an ihnen vorbeijagte, dass Arianrhod einen fast entsetzten Schritt zur Seite machte, um nicht niedergetrampelt zu werden. Ihre Mutter fiel auf den Rücken, schlitterte dieselbe Strecke, die das Pferd gerade mit einem Sprung zurückgelegt hatte, fluchend und hilflos mit den Armen rudernd herab und blieb schließlich benommen liegen.

Mit einem einzigen Satz war Arianrhod bei ihr und fiel auf die Knie. »Ist dir etwas passiert?«, keuchte sie erschrocken.

Ihre Mutter blinzelte benommen zu ihr hoch, arbeitete sich dann ächzend in eine halbwegs sitzende Position und machte eine unwillige Geste, als Arianrhod die Hände nach ihr ausstreckte. »Geh und sieh nach Sturmwind.«

»Aber...«, begann Arianrhod.

»Tu, was ich dir sage, und kümmere dich nicht um mich!«, fiel ihr ihre Mutter ins Wort.

»Deine Tochter macht sich doch nur Sorgen um dich«, sagte Dragosz.

Arianrhod war nicht einmal sicher, ob sie sich über diese Schützenhilfe von unerwarteter Seite freuen sollte, aber zumindest zog Dragosz damit nun den Unmut ihrer Mutter auf sich, der sich sonst wahrscheinlich über ihr entladen hätte. »Ich kann schon selbst auf mich aufpassen«, fauchte sie. »Ein paar Kratzer bringen mich nicht um, aber wenn wir die Pferde verlieren, dann ist es aus! Also seht gefälligst nach Sturmwind!«

Dragosz war klug genug, nicht mehr darauf zu antworten, und auch Arianrhod stand hastig auf und zog sich ein paar Schritte rückwärts gehend zurück. Als sie sah, wie Lea sich umständlich in die Höhe zu stemmen begann, wandte sie sich hastig um und lief zu Dragosz hin, der mittlerweile bei Sturmwind angelangt war und mit besorgtem Gesichtsausdruck ihre Fesseln abtastete. Fast zu Arianrhods Verwunderung ließ die Stute es geschehen, auch wenn ihre Blicke misstrauisch jeder Bewegung des Menschen folgten, der da so ungeschickt an ihr herumtastete, und Arianrhod wäre nicht weiter erstaunt gewesen wäre, hätte sie überraschend nach ihm gebissen.