»Ja«, seufzte Lea, ganz leise, sodass Dragosz ihre Worte nicht verstehen konnte. »Ich fürchte fast, es wird eine Weile dauern, bis du dich an ihn gewöhnt hast.«
Dragosz stapfte durch den Fluss, dass das Wasser fast bis zu seinen Schultern aufspritzte, und rammte das Schwert in den Gürtel zurück, während er auf dem diesseitigen Ufer heraufstieg. Seine Füße hinterließen große, nasse Abdrücke im Gras, und Arianrhod verspürte einen heftigen Anflug von Schadenfreude, als sie daran dachte, wie eisig das Wasser war und wie lange es dauern musste, bis seine Sandalen getrocknet waren. Allerdings hielt diese Schadenfreude nur so lange an, bis ihr aufging, dass sie in wenigen Augenblicken vermutlich selbst herausfinden würde, wie kalt das Wasser wirklich war.
»Und?«, fragte Lea, als Dragosz heran war.
»Der Weg geht auf der anderen Seite weiter«, brummte er. »Er scheint nicht sehr oft begangen zu werden, deshalb ist der Zugang auf dieser Seite auch beinahe zugewachsen. Aber nach ein paar Schritten wird es einfacher.«
»Nicht nur ein bisschen schwieriger?«, vergewisserte sich Lea in Anspielung auf das, was Kron über den Hohlweg behauptet hatte.
34
Dragosz antwortete gar nicht darauf, sondern funkelte sie nur an, fuhr dann mit einer abrupten Bewegung herum und ging zu Sturmwind. Lea sah ihm kopfschüttelnd nach, wie er sich auf den Rücken der Stute schwang, dann seufzte sie und gab Arianrhod mit einer Handbewegung zu verstehen, ihr zu folgen. Während Dragosz die Stute mit einer groben Bewegung herumriss und durch den Bach lenkte, half Lea ihr, auf den Rücken des Hengstes zu klettern und in eine einigermaßen bequeme Position zu rutschen. Erst dann stieg auch sie auf. Aber sie ritt nicht sofort los, sondern wartete, bis Dragosz den Bach durchquert hatte und auf der anderen Seite im Wald verschwunden war, bevor sie ihm folgte. Arianrhod war sich sicher, dass das kein Zufall war.
Dragosz hatte ausnahmsweise einmal nicht übertrieben. Nach nur einem kurzen Stück, auf dem der Weg tatsächlich von Unkraut und wucherndem Gebüsch zurückerobert worden war, wurde er wirklich breiter, und der Boden war so eben und fest, dass sie regelrecht spüren konnte, wie Nachtwind unter ihr aufatmete und wieder in seinen gewohnten Trab zurückfiel. Sie fegten jetzt nicht mehr mit einer so halsbrecherischen Geschwindigkeit durch den Wald wie auf dem ersten Teil ihrer Flucht, legten nun aber doch ein rasches Tempo vor, von dem Arianrhod annahm, dass es für die Pferde zwar allerhöchstens ein gemächliches Dahintraben sein konnte, das aber selbst einen rennenden Mann schon nach kurzer Zeit hoffnungslos überfordern musste. Wenn ihnen Sarns Krieger tatsächlich auf diesem Weg folgten, dann bestand kaum die Gefahr, dass sie sie einholten.
Es war sehr dunkel hier im Wald. Ihre Mutter hielt zwar weiter einen unnötig großen Abstand zu Dragosz ein, achtete aber doch zugleich auch darauf, dass er nicht zu groß wurde, sodass sie selten weiter als sechs oder acht Pferdelängen hinter ihm zurückfielen. Dennoch schien Sturmwind manchmal zu einem fast geisterhaften, hellen Schemen vor ihnen im Wald zu verblassen, und der dunkel gekleidete Krieger auf ihrem Rücken war die meiste Zeit über gar nicht zu sehen.
Arianrhod saß vor ihrer Mutter auf dem Pferderücken und konnte ihr Gesicht somit nicht sehen, aber sie spürte trotzdem, wie sich Leas Miene weiter verdüsterte, wie um sich ihrer Umgebung anzupassen. Sie fühlte sich ein wenig schuldig. Sie wusste nicht, was wirklich zwischen Dragosz und ihr vorgefallen war, aber sie war jetzt sicher, dass es zwischen den beiden einen heftigen Streit gegeben hatte, schon bevor sie nach Goseg gekommen waren, um sie zu befreien. Sie wollte das nicht. Auch wenn es nicht stimmte, so sagte sie sich doch, dass Dragosz ihr vollkommen gleichgültig sein konnte, aber sie erinnerte sich noch zu gut an den warmen Ausdruck in Leas Augen, als sie sie das erste Mal zusammen mit ihm gesehen hatte, und sie wollte nichts mehr, als dass ihre Mutter dieses winzige bisschen Glück vom Leben bekam, das ihr so lange vorenthalten worden war. Dragosz war es ihr einfach schuldig. Lea hatte Recht: Es würde sicherlich eine geraume Weile dauern, bis sie sich an die rüde Art des bartlosen Kriegers gewöhnt hatte, aber sie würde sich an ihn gewöhnen, auch wenn es ihr schwer fiel, schon, um ihn im Auge zu behalten und über ihre Mutter zu wachen.
Mit einem neuerlichen Gefühl von nagendem schlechtem Gewissen dachte sie an einen Moment am Ufer eines anderen, sehr weit entfernten Baches zurück, an das, was sie damals gefühlt hatte - und an das Säckchen mit dem Pulver, das ihr Dragosz gegeben hatte, damit sie es im Notfall ins Feuer werfen und ihn über den entstehenden Signalrauch zur Hilfe rufen konnte. Das Säckchen hatte sie mittlerweile längst verloren - wahrscheinlich lag es in dem engen Stollen, in dem Runa ums Leben gekommen war -, nicht aber das eigenartig wärmende Gefühl, dass sie nach wie vor Dragosz rufen konnte, wenn sie in Not war. Merkwürdigerweise empfand sie dabei aber ein solch starkes Gefühl von Scham, dass sie sich nur in dem Entschluss bestärkt fühlte, den sie in diesem Moment für sich fasste. Dragosz gehörte ihrer Mutter, und sie würde dafür sorgen, dass es so blieb. Auch wenn Lea es niemals erfahren würde: Von heute an würde sie ihr wenigstens einen kleinen Teil dessen zurückzahlen, was sie ihr schuldete, und auch ein wenig über ihr Leben wachen.
Eine Weile ritten sie in unveränderter Geschwindigkeit durch den düsteren Wald. Hier, zwischen den nah beieinander stehenden Bäumen, deren gewaltige Kronen mittlerweile zwar ebenfalls fast blattlos waren, dennoch aber so dicht, dass sie sich über dem Weg zu einem nahezu geschlossenen Dach vereinten, welches den Sonnenschein zu einem unsicheren, trüben Dunst verblassen ließ, war es spürbar kälter als am Ufer des Baches. Nachtwinds Atem war als regelmäßige Folge kleiner, grauer Dampfwölkchen vor seinen Nüstern sichtbar, und Arianrhod vergrub die Finger schon längst nicht mehr in seiner Mähne, um sich darin festzuklammern, sondern um sie zu wärmen. Sie fror selbst in dem dicken Umhang, den Lea ihr gegeben hatte, und wie sich ihre Mutter in dem dünnen, noch dazu an zahllosen Stellen zerrissenen Kleid fühlen musste, das wollte sie gar nicht wissen. Aus dem Abenteuer, zu dem ihr Weggang aus dem heimatlichen Dorf eigentlich hatte werden sollen, war längst nicht nur eine kopflose Flucht, sondern eine reine Tortur geworden.
Irgendwann begann sich das Grau ringsum zu lichten. Die Bäume traten weiter auseinander, das Gewirr aus Ästen und Zweigen über ihren Köpfen wurde dünner, und dann ritten sie endlich wieder durch einen gewöhnlichen Wald und nicht mehr durch einen unheimlichen Tunnel, der in eine immer währende Nacht gebohrt worden war. Der Weg wurde breiter, und Arianrhod konnte erkennen, dass er tatsächlich nicht nur benutzt, sondern auch von denen, die es taten, sorgsam instand gehalten wurde. Hier und da erkannte sie einen Busch, der erst vor kurzer Zeit gestutzt worden zu sein schien, den Stumpf eines Astes, den jemand abgehackt hatte, damit er nicht über den Weg wucherte, und es gab kaum heruntergefallene Äste und Laub auf dem Boden. Einmal glaubte sie sogar die Spuren eines Ochsenkarren zu erkennen, dessen Räder sich unter dem Gewicht seiner Last in den Boden gegraben hatten, aber sie waren zu schnell vorbei, als dass sie sicher sein konnte. Wessen sie hingegen sicher war, das war, dass es Menschen in der näheren Umgebung geben musste. Dieser Weg war nicht von selbst entstanden, und ihn anzulegen und so sorgsam davor zu bewahren, dem unermüdlichen Ansturm der Jahreszeiten und des Waldes zum Opfer zu fallen, musste große Mühe kosten.
Der Gedanke gefiel ihr nicht. Fast immer, wenn sie in letzter Zeit auf Menschen gestoßen waren, hatte es in einer Katastrophe geendet, und ganz gleich, wie weit sie die unermüdlichen Beine der Pferde bisher auch getragen haben mochten, sie befanden sich noch immer in der Nähe von Goseg. Menschen, auf die sie trafen, waren entweder Verbündete Gosegs oder nur allzu bald schon tot.