»Jedenfalls nicht von dir«, antwortete Lea. Arianrhod versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, aber ihre Miene blieb völlig undeutbar. »Und auch nicht von ihm.«
»Aber woher dann?«
»Du hörst mir anscheinend wirklich nie richtig zu, wie?«, seufzte ihre Mutter. »Ich habe dir doch gesagt, dass Mütter niemals schlafen und dass sie die Gedanken ihrer Kinder lesen können. Ich habe euch belauscht.«
»Du hast uns...«, keuchte Arianrhod.
»Euch belauscht, ja«, bestätigte ihre Mutter ungerührt. Ihre Stimme nahm einen Ton anklagend übertrieben gespielter Strenge an. »Es war nicht besonders schwer. Ich habe dir zwar beigebracht, wie man sich anschleicht, aber nicht, wie man sich wegschleicht. Das ist ein großer Unterschied, musst du wissen. Vor allem für Mütter. Das Wegschleichen lehren sie ihre Kinder nie.«
Arianrhod ging nicht auf den halb scherzhaften Ton ein, den ihre Mutter ihr anbot. »Du bist mir nachgegangen?«, vergewisserte sie sich. Ihr Herz klopfte immer schneller. »Du... du hast gehört... was...«
»Jedes Wort«, sagte Lea. »Und ich habe euch auch gesehen.«
Auch das ignorierte Arianrhod ganz bewusst. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Vielleicht, weil ich gehofft habe, dass du mir etwas sagst.« Lea zog die Augenbrauen zusammen. »Außerdem wollte ich zuerst mit Dragosz reden und ihm die Augen auskratzen. Aber zu seinem Glück sind uns ja ein paar von Nors Kriegern dazwischen gekommen.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung, als Arianrhod etwas sagen wollte, und fuhr, plötzlich in einem Ton, von dem Arianrhod nicht wusste, ob er nun spöttisch oder verständnisvoll gemeint war, fort: »Du musst nichts sagen. Ich habe mir selbst schon alles dazu gesagt, was nötig ist, weißt du?«
»Aber... aber ich habe doch nur...«
»Ich war im ersten Moment ziemlich zornig auf dich, und auch auf ihn, das gebe ich zu«, fuhr Lea ungerührt fort. »Aber wirklich nur im ersten Moment. Du musst kein schlechtes Gewissen haben oder dich schämen. Es ist ganz normal, dass du in deinem Alter anfängst, ein Auge auf Männer zu werfen. Vor allem, wenn sie so gut aussehen wie Dragosz und alles andere als vom Alter gebeugt sind.«
»Aber er gehört dir«, murmelte Arianrhod. Sie fühlte sich unglaublich schuldig.
»Gut, dass du es selbst sagt«, pflichtete ihr Lea bei. »Und es wäre noch besser, wenn du es nicht vergisst.« Plötzlich lachte sie und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, mach dir keine Vorwürfe. Ich hätte wissen müssen, was passiert. Es ist ganz sicher nicht das erste Mal, dass sich eine Tochter in denselben Mann verliebt wie ihre Mutter, wenn er nicht zufällig auch ihr Vater ist. Und die Auswahl an gut aussehenden Männern ist bei uns im Dorf ja nun wirklich nicht groß.« Sie blinzelte Arianrhod fast verschwörerisch zu. »Und was Dragosz angeht - ich war ihm zwar böse, aber ich kann ihn verstehen. Du bist ein sehr hübsches Mädchen, und er müsste schon mit Blindheit geschlagen sein, um das nicht zu sehen.« Sie zuckte abermals mit den Achseln. »Ich nehme es als Kompliment. Immerhin bist du meine Tochter.«
»Aber...«, begann Arianrhod.
»Und jetzt wollen wir nie wieder über dieses Thema reden, einverstanden?«
Arianrhod nickte nur. Antworten konnte sie nicht. In ihrer Kehle saß plötzlich ein bitterer Kloß, der sie nicht nur am Sprechen hinderte, sondern sie fast zu ersticken schien, und ihr Herz klopfte noch immer so hart, dass sie es bis in die Spitzen ihrer zu Fäusten geballten Finger spüren konnte. Sie fühlte sich noch immer schuldig, jetzt vielleicht sogar mehr als zuvor, nicht wegen dem, was sie getan hatte - genau genommen hatte sie ja gar nichts getan -, wohl aber wegen dem, was sie gedacht und vor allem gefühlt hatte. Davon wusste ihre Mutter nichts, und sie nahm sich fest vor, dass sie es auch niemals erfahren würde. »Ja«, sagte sie mit einiger Verspätung. »Ich wollte ja auch nur...«
»Nie wieder«, fiel ihr Lea erneut ins Wort, diesmal etwas schärfer. Noch nicht wirklich zornig, aber doch so nachdrücklich, dass Arianrhod nur nickte und dann mit einem Ruck den Kopf zur Seite drehte, um wieder ins Tal hinabzusehen. Sie fühlte sich noch immer niederträchtig und gemein, zugleich aber auch unendlich erleichtert. Und sie verspürte ein warmes Gefühl für ihre Mutter, das sie allzu lange vermisst hatte. Vielleicht war es gar nicht so, wie sie vorhin noch gedacht hatte. Vielleicht hatte sie ihre Mutter nicht verloren, sondern nur eine Freundin gewonnen.
Dragosz hatte mittlerweile sein Pferd gewendet und war wieder auf dem Rückweg, ohne dass es Arianrhod während ihres Gesprächs aufgefallen wäre. Er schien in großer Eile zu sein, doch sie sah nun, dass er Schwierigkeiten hatte, die Stute die steil ansteigende Böschung hinaufzutreiben. Sie scheute immer wieder und versuchte sich ihm zu widersetzen, sodass er mit immer größerer Kraft an diesen verfluchten Lederriemen herumzerrte, die ihre Mutter Zaumzeug nannte und die nach ihren Worten eher dazu gedacht waren, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu verbessern, statt mit grober Gewalt einem Pferd seinen Willen aufzuzwingen.
»Dieser Dummkopf lernt es nie«, seufzte Lea. »Wenn er so weitermacht, dann wird sie ihn abwerfen.« Sie schnaubte abfällig. »Eigentlich sollte ich in aller Ruhe abwarten, bis das passiert.«
»Reitet sein Volk nicht?«
»Nein. Ich habe ihm das Reiten beigebracht. Und bevor du jetzt sagst, ich wäre eine schlechte Lehrerin, das stimmt nicht. Er ist ein schlechter Schüler.« Sie stand auf und hob beide Arme über den Kopf, um Dragosz zuzuwinken. Arianrhod bezweifelte, dass er es überhaupt sah, denn er schien voll und ganz damit beschäftigt zu sein, sich auf Sturmwinds Rücken zu halten und mit immer größerer Kraft an den Zügeln zu reißen, aber die Stute erkannte Lea sofort. Sie hörte plötzlich auf, gegen ihren Reiter anzukämpfen, und verfiel ganz im Gegenteil in einen raschen Trab, der sie binnen weniger Augenblicke zu ihnen heraufbrachte.
Dragosz fiel mehr von ihrem Rücken, als er herunterkletterte. Er war vollkommen außer Atem, und sehr aufgebracht. »Störrisches Vieh!«, schimpfte er. »Um ein Haar hätte ich mir den Hals gebrochen!«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie nicht beschimpfen«, sagte Lea spöttisch. Sie nahm Dragosz den Zügel aus der Hand und tätschelte Sturmwinds Hals. Das Pferd dankte es ihr, indem es sie freundschaftlich mit dem Kopf gegen die Schulter stupste, bevor es sich zu Nachtwind gesellte, der noch immer an derselben Stelle ein Stück den Weg hinab wartete, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Dragosz blickte der Stute finster nach und wandte sich dann mit einem noch finstereren Blick an Lea. »Vielleicht ist es ja wahr, was man sich in Goseg über dich erzählt«, grollte er. »Du bist eine Hexe. Du hast sie verzaubert.«
»Ja«, antwortete Lea lächelnd. »Wenn du willst, dann verrate ich dir meinen Zauberspruch. Er besteht aus einem einzigen Wort. Sanftmut.«
»Aus deinem Mund bekommt dieses Wort eine ganz andere Bedeutung«, sagte Dragosz spöttisch. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um den Schweiß wegzuwischen.
»Aber es ist das ganze Geheimnis«, belehrte ihn Lea. »Sie sind sehr sanfte Wesen. Du musst ihre Freundschaft erringen. Wenn du versuchst, sie zu etwas zu zwingen, dann werden sie dir niemals wirklich treu ergeben sein. Und glaub mir, sie spüren ganz genau, ob es jemand ehrlich mit ihnen meint oder nicht.«
Dragosz sah sie einen Moment lang misstrauisch an, als suche er nach einer verborgenen Bedeutung in diesen Worten, dann aber schüttelte er unwillig den Kopf. »Wollen wir uns über Pferde unterhalten, oder willst du wissen, was ich gefunden habe?«
»Einen verräterischen Fischer, einen blinden Schmied und einen einarmigen Jäger?«, erkundigte sich Lea, immer noch lächelnd.