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Und wenn nicht?, wisperte eine lautlose Stimme hinter ihrer Stirn. Wenn ihre Verfolger sie eingeholt und Rahn und die anderen überwältigt hatten und nun an ihrer Stelle dort vorne warteten? Oder, schlimmer noch: wenn Dragosz sie verraten hatte?

Arianrhod erschrak über diesen Gedanken und versuchte ihn abzuschütteln, aber er blieb hartnäckig da, wo er war, und ihre nagenden Zweifel (ja, auch an Dragosz!) wurden ganz im Gegenteil noch stärker.

Doch gerade, als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können und sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie eine entsprechende Frage stellen konnte, ohne Dragosz zu verletzen, erwachte einer der Schatten zwischen den Bäumen zu plötzlichem Leben, und ein hoch gewachsener, hellhaariger Mann in einem braunen Wollmantel trat aus dem Wald. Arianrhod hatte ihn noch nie gesehen, sehr wohl aber jemanden wie ihn. Er trug keinen Bart, und obwohl sie noch zu weit entfernt war, um sein Gesicht genau erkennen zu können, war die Ähnlichkeit mit Dragosz unübersehbar. Das musste einer der beiden Krieger sein, von denen er gesprochen hatte.

Dragosz hob die linke Hand und winkte. Der Fremde zögerte sichtbar, bevor er seinen Gruß erwiderte, und er kam ihnen auch nicht entgegen, wie Arianrhod eigentlich erwartet hätte, sondern machte kehrt und verschwand so schnell und lautlos wieder zwischen den Bäumen, wie er aufgetaucht war.

Auch ihre Mutter schien gebührend beeindruckt zu sein. »Sind alle deine Männer so gut?«, wandte sie sich an Dragosz, während sie das Pferd zügelte und in derselben Bewegung auch schon von seinem Rücken glitt.

»Nicht alle«, gestand Dragosz, allerdings in einem Ton, der deutlich machte, dass ihm dieses Eingeständnis nichts auszumachen schien. »Aber die, nach denen ich geschickt habe. Es sind die besten. Wenn Sarns Krieger wirklich dumm genug sind, uns einzuholen, dann werden sie es bereuen.«

Lea sagte nichts dazu, aber Arianrhod entging auch nicht der sonderbare Blick, mit dem sie Dragosz für einen Moment maß. Bei seinen letzten Worten war etwas in seiner Stimme gewesen, was ihrer Mutter ebenso wenig zu gefallen schien wie ihr. Er hatte sich fast angehört, als wünsche er sich, dass sie auf die Krieger aus Goseg stießen. Die Geschichten, die man sich über das fremde Volk aus dem Osten erzählte, fielen ihr wieder ein, und die Frage, die sie ihrer Mutter vorhin gestellt hatte. Und auch ihre Antwort darauf.

Hastig verscheuchte sie den Gedanken, folgte dem Beispiel ihrer Mutter und glitt vom Pferd. Sie beschleunigte ihre Schritte voller Unruhe, bis sie Dragosz und ihre Mutter eingeholt hatte, die schon vorausgegangen waren. Gerade als sie den Waldrand erreichten, sah Arianrhod einen Schatten, der zwischen den Baumstämmen auf sie zukam. Sie erwartete, denselben Krieger zu sehen wie zuvor, doch es war Rahn, der ihnen entgegentrat. Der Fischer wirkte fahrig und übernächtigt, aber als er Arianrhod erblickte, breitete sich ein Ausdruck echter Erleichterung auf seinem Gesicht aus.

»Arri!«, rief er aus. »Ich bin so froh, dich zu sehen.« Und ehe Arianrhod auch noch richtig begriff, wie ihr geschah, eilte er mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zu und schloss sie in die Arme, wie eine lang vermisste Schwester, die wiederzusehen er kaum noch gehofft hatte.

Nur mit Mühe gelang es Arianrhod, sich aus seiner stürmischen Umarmung loszumachen und ihn ein kleines Stück weit von sich wegzuschieben. »Rahn!«, keuchte sie. »Bist du verrückt geworden? Was soll das?«

Bevor Rahn antworten konnte, fragte Dragosz rasch: »Wo sind die anderen?«

Rahn deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück. »Sie warten auf euch, gleich hinter den Bäumen. Wo wart ihr so lange? Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass ihr es doch noch schafft.«

»Dann sollten wir sie auch nicht länger als unbedingt nötig warten lassen«, sagte Dragosz. Mit schnellen Schritten ging er an Rahn vorbei und verschwand im Wald, während Lea eine Lücke im Unterholz suchte, durch die sie in den Wald eindringen konnte, ohne sich das Kleid zu zerreißen (auch wenn sich Arianrhod nicht vorstellen konnte, dass das noch einen großen Unterschied machte). Nachtwind ließ sie einfach laufen. Arianrhod warf ihr einen erschrockenen Blick zu, aber Lea machte nur eine rasche, beruhigende Geste.

»Sie laufen nicht weg, keine Sorge«, sagte sie. »Dieser dichte Wald ängstigt sie nur.« Sie sah sich weiter um, fand endlich, wonach sie gesucht hatte, und gab Arianrhod zugleich mit einer entsprechenden Kopfbewegung zu verstehen, ihr zu folgen.

»Ich bin so froh, dass ihr es geschafft habt«, sagte Rahn noch einmal. »Wir alle haben uns große Sorgen um dich gemacht.«

»Wir?«, fragte Arianrhod, während sie sich behutsam einen Weg durch das zwar dürre, aber dornige Unterholz zu bahnen versuchte. Sie hätte umkehren und es auf demselben Weg wie ihre Mutter versuchen können, aber es widerstrebte ihr zurückzugehen, und seien es nur wenige Schritte.

»Kron, Achk und ich«, antwortete Rahn. »Und Dragosz’... Freunde.«

Das unmerkliche Stocken entging Arianrhod nicht; sie stellte zwar keine entsprechende Frage, aber die Art, auf die Rahn das Wort Freunde ausgesprochen hatte, ließ eine solche auch überflüssig werden.

»Wir wären schon eher hier gewesen«, antwortete sie, »aber du weißt ja, wie Sarn ist. Er drängt jedem seine Gastfreundschaft auf und ist immer so schnell beleidigt, wenn man zu früh abreisen will.«

Rahn blinzelte. Einen Moment lang wirkte er irritiert und konnte sichtlich nichts mit diesen Worten anfangen, aber schließlich schien er wenigstens zu begreifen, wie sie gemeint gewesen waren, und zwang sich zu einem - wenn auch missglückten - Lachen. Aber er wurde auch sofort wieder ernst. »Was ist passiert?«, wollte er wissen. »Wie konntet ihr entkommen?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Arianrhod unwillig, was der Wahrheit entsprach, aber nicht der Grund dafür war, dass sie Rahn nicht erzählte, wie ihre Mutter und Dragosz sie befreit hatten. Sie wollte nicht darüber reden. Jetzt nicht, und vielleicht auch später nicht.

Rahn wirkte enttäuscht, beherrschte sich aber, keine weitere Frage zu stellen, und machte eine aufgeregte wedelnde Handbewegung hinter sich. Seine Freude, sie wiederzusehen, wirkte durchaus echt, wie sich Arianrhod mit einem Gefühl leiser Verwirrung eingestand. Vor allem nach dem, was sie mit Rahn in Goseg erlebt hatte, war ihr Misstrauen ihm gegenüber zwar regelrecht aufgelodert, fast im gleichen Maße aber auch ihre Verwirrung, wie sie zu ihrer eigenen Überraschung erst jetzt begriff. Es war längst nicht so, dass sie daran glaubte oder gar darauf vertraute, nein, sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Immerhin, musste sie einräumen, wäre sie nicht hier, hätte er ihre Mutter und Dragosz nicht alarmiert und sich damit - zum ersten Mal in seinem Leben - offen gegen Sarn gestellt.

Zu ihrer Erleichterung war der Weg nicht weit. Schon nach wenigen Dutzend Schritten lichtete sich der Wald vor ihnen wieder, und sie hörte die Stimme ihrer Mutter, die mit jemandem sprach. Gerade noch langsam genug, um nicht wirklich zu rennen, eilte sie weiter und trat auf eine halbrunde Lichtung hinaus, die sich zu der mit Felsen und Geröll übersäten Talböschung hin öffnete.

Ihre Mutter und Dragosz waren nur unweit entfernt. Dragosz unterhielt sich mit dem Mann, der ihnen vorhin am Waldrand entgegengekommen war, während ihre Mutter die Arme vor der Brust verschränkt hatte und zuhörte. Sie wirkte verstimmt. Von dem zweiten Krieger, von dem Dragosz gesprochen hatte, war keine Spur zu sehen.

Dafür entdeckte sie Kron und den Schmied auf der anderen Seite der Lichtung. Sie saßen im Windschatten eines großen, vierrädrigen Karrens, und Achk hatte die Hände über der Glut eines fast erloschenen Feuers ausgestreckt, um sich zu wärmen. Auch Kron saß vornüber gebeugt und in einer Haltung da, die große Müdigkeit anzeigte, doch als er Arianrhod erblickte, sprang er auf und eilte ihr entgegen. Achk hob, durch die plötzliche Bewegung aufgeschreckt, den Kopf und sah sich aus weit aufgerissenen, blinden Augen um.