»Ihr habt es also tatsächlich geschafft«, begann Kron, als er auf Hörweite heran war. Achk legte den Kopf schräg und lauschte konzentriert. Als er Arianrhods Stimme hörte, hellte sich sein Gesicht auf.
»Hast du daran gezweifelt?«, wollte sie wissen.
Der einarmige Jäger war klug genug, diese Frage nicht zu beantworten. Stattdessen schenkte er ihr noch einen kurzes, aber sehr warmes Lächeln, dann wurde er übergangslos umso ernster. »Seid ihr verfolgt worden?«
»Ganz bestimmt sogar«, antwortete Arianrhod, »aber nicht auf dem Weg, den wir genommen haben.« Krons Gesichtsausdruck wurde fragend, und Arianrhod fügte hinzu, indem sie mit beiden Händen so etwas wie einen nach oben offenen Trichter bildete: »Wir sind den Hohlweg hinabgekommen.«
Kron sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein. »Den Hohlweg?« Hastig sah er zu Lea hin. »Aber ich habe deine Mutter doch davor gewarnt. Er ist sehr gefährlich.«
»Wahrscheinlich hat sie ihn deshalb genommen«, erwiderte Arianrhod mit einem flüchtigen Lächeln und zuckte dann mit den Schultern. »Aber wie du siehst, haben wir es ja geschafft. Jetzt ist alles vorbei.«
Weder Kron noch Rahn sahen so aus, als teilten sie ihre Einschätzung der Lage, aber keiner der beiden sagte etwas. »Bist du hungrig?«, fragte Kron.
Und ob sie das war, immerhin hatte sie seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Sie nickte heftig, und genau in diesem Moment ließ ihr Magen ein lautstarkes Knurren hören, was ihr außerordentlich peinlich war.
Kron grinste und machte eine einladende Geste in Richtung des Wagens. »Dann komm. Essen haben wir genug. Sarn hat uns zwar in den sicheren Tod geschickt, aber anscheinend wollte er nicht, dass wir hungrig sterben.«
Allein der Gedanke an Essen ließ Arianrhod das Wasser im Munde zusammenlaufen, aber sie schüttelte trotzdem den Kopf und deutete auf ihre Mutter. »Ich komme gleich«, sagte sie. »Ihr könnt ja schon einmal das Feuer anfachen und das saftigste Bratenstück heraussuchen, das ihr habt. Ich bin hungrig wie ein Wolf nach dem Winter.«
Ehe Kron widersprechen konnte, fuhr sie herum und eilte zu ihrer Mutter und den beiden anderen Männern. Der fremde Krieger sprach noch immer, heftig mit beiden Händen gestikulierend und mit gedämpfter Stimme mit Dragosz, warf ihr aber trotzdem einen zwar kurzen, aber sehr aufmerksamen und irgendwie abschätzenden Blick zu, als sie näher kam. Auch ihre Mutter wandte den Kopf, und es schien Arianrhod, als wolle sie ihr mit Blicken irgendetwas signalisieren, aber wenn, dann verstand sie es nicht.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie, als sie bei den dreien angekommen war. Ihre Mutter deutete nur ein Schulterzucken an, und Dragosz wechselte noch ein paar Worte in einer fremden Sprache mit dem Krieger, die Arianrhod nicht verstand. Dann nickte der Mann und verschwand mit schnellen Schritten im Unterholz, und Dragosz wandte sich erst jetzt zu ihr um und räusperte sich unbehaglich. »Ich bin nicht sicher. Vielleicht ein wenig beunruhigt.«
»Worüber?«, wollte Arianrhod wissen.
»Die Männer glauben, dass jemand in der Nähe ist«, sagte Dragosz. »Gut möglich, dass es Sarns Krieger sind.«
Arianrhod sah sich mit einer übertriebenen Geste um. »Die Männer?«, vergewisserte sie sich. »Ich habe nur einen gesehen. Hast du nicht gesagt, es wären zwei?«
»Der andere hält oben auf dem Hügel Wache«, antwortete Dragosz. »Barosch ist gerade unterwegs, um ihn zu holen.« Er legte den Kopf schräg. »Was soll dieses Verhör?«
»Ich war nur...«, begann Arianrhod, und Dragosz unterbrach sie mit einer halb ungeduldigen, halb ärgerlichen Geste.
»Du hast mit Rahn gesprochen«, sagte er. »Ich weiß ja nicht, was er dir erzählt hat, aber du glaubst besser nur das, was du siehst.« Und damit wandte er sich um und stapfte wütend davon.
Arianrhod sah ihm verwirrt nach. »Was... was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?«
»Nichts«, beruhigte sie Lea. »Es hat wohl irgendeinen dummen Streit zwischen Dragosz’ Männern und Rahn gegeben, als wir weg waren.« Sie zuckte betont beiläufig mit den Schultern. »Mach dir keine Sorgen. Sie werden schon lernen, miteinander auszukommen.«
Das hätte überzeugend klingen sollen, tat es aber nicht, weder in Arianrhods noch in Leas Ohren, wie sie ihr deutlich ansehen konnte. Arianrhod seufzte innerlich tief. Sie hatten die eine Gefahr noch nicht hinter sich, und schon zeichneten sich wieder neue Probleme ab. So hatte sie sich dieses Abenteuer wahrlich nicht vorgestellt.
»Hast du nicht gesagt, Morgenwind wäre hier?«, wandte sie sich an ihre Mutter; vielleicht nur, um das Thema zu wechseln.
»Ich habe gesagt, sie ist bei uns«, verbesserte sie Lea, »nicht, dass sie hier im Lager wäre.« Sie kam Arris Widerspruch über diese Spitzfindigkeiten mit einem entschiedenen Kopfschütteln zuvor. »Keine Sorge. Sie läuft öfter einmal davon, aber sie kommt immer wieder zurück.« Ein Schulterzucken. »Sie ist ein Mädchen, was erwartest du?«
Diesmal funktionierte es nicht. Arri sah ihre Mutter nur traurig an und raffte sich schließlich sogar zu einem matten Lächeln auf, aber nicht, weil ihr scherzhafter Ton sie wirklich aufgeheitert hätte, sondern um ihr zu zeigen, dass sie die gute Absicht zu würdigen wusste. »Kron hat... hat etwas zu essen für uns«, sagte sie unbeholfen.
»Dann geh und iss«, antwortete Lea. »Ich bin nicht hungrig, aber du musst es sein. Haben sie dir wenigstens genug zu essen gegeben, während du in Goseg warst?«
»Meistens«, antwortete Arianrhod ausweichend.
»Also nicht«, stellte Lea fest. »Dann iss dich erst einmal satt. Wer weiß, wann du das nächste Mal dazu kommst.«
Arri war irritiert. Schickte ihre Mutter sie weg?
Im nächsten Moment bereute sie ihren Gedanken. Selbst wenn es so war, ging sie das wirklich nichts an. Trotzdem antwortete sie: »Das gilt aber auch für dich.«
»Ich bin nicht hungrig«, sagte Lea noch einmal. »Sarn war überaus großzügig, als er Rahn und die beiden anderen weggeschickt hat. Wahrscheinlich soll ihm niemand nachsagen, er habe kein gutes Herz.« Sie wedelte mit der Hand in Richtung des Wagens. »Geh schon. Ich habe noch mit Dragosz zu sprechen.«
Das war deutlich genug. Arianrhod sah ihre Mutter verunsichert an, aber dann wandte sie sich mit einem beleidigten Ruck um und ging zu Kron und dem Blinden zurück, die hinter dem abgeschirrten Wagen auf sie warteten.
Der Duft von gebratenem Fleisch drang ihr in die Nase, noch bevor sie den Wagen ganz umrundet hatte, und ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie ging schneller und musste sich beherrschen, um die letzten Schritte nicht zu rennen.
Rahn und die beiden anderen saßen mit untergeschlagenen Beinen in einem Dreiviertelkreis dergestalt um das Feuer herum, dass noch ein Platz frei blieb. Die Flammen züngelten jetzt so hoch, dass Arianrhod die Wärme bereits spüren konnte, als sie noch etliche Schritte davon entfernt war. Der Fischer hatte ein gewaltiges Stück Fleisch an einem Stock aufgespießt, den er in die prasselnden Flammen hielt und dabei langsam von rechts nach links und wieder zurückdrehte. Obwohl es noch roh und an einigen Stellen sogar blutig war, wurde aus ihrem nagenden Hunger pure Gier, sodass sie all ihre Selbstbeherrschung aufbringen musste, um Rahn den Stock nicht aus der Hand zu reißen und die Zähne in das Fleisch zu graben. Vielleicht hätte sie es sogar getan, wären die beiden anderen nicht dabei gewesen.
So fuhr sie sich nur mit der Zunge über die Lippen und steuerte den frei gebliebenen Platz am Feuer an. Rahn schenkte ihr ein Lächeln, an dem sie erkennen konnte, wie deutlich er ihr ihren Hunger ansah, und auch Kron maß sie mit einem sonderbaren Blick, den Arianrhod nicht richtig einzuordnen vermochte. Die Art, auf die das Gespräch der drei Männer abrupt endete, als sie sich zu ihnen gesellte, verriet Arianrhod, dass sie über sie gesprochen hatten.