Выбрать главу

Arris Mut sank, aber nur für einen Moment. Ihre Mutter verlangte oft Dinge von ihr, die schwer waren und mit denen sie sich nicht selten überfordert fühlte, aber sie hatte nie etwas Unmögliches von ihr erwartet. Die Aufgabe musste also zu lösen sein. Dieser Gedanke half. Furcht und Niedergeschlagenheit verschwanden, und eine kribbelnde Erregung ergriff von Arri Besitz. Zweifellos stand ihre Mutter irgendwo gut verborgen in den Schatten des Waldes und beobachtete sie, und sie hatte nicht vor, sie zu enttäuschen. Behutsam ließ sie sich in die Hocke sinken, tastete mit den Fingerspitzen über den von der Sommerhitze ausgetrockneten und rissig gewordenen Boden und strengte die Augen an, um in dem schwachen Licht so viel wie nur möglich zu erkennen.

Nach einer Weile hatte sie Erfolg. Nur ein kleines Stück vom Waldrand entfernt entdeckte sie einen Ast mit einer frischen Bruchstelle und in gerade Linie dahinter ein niedergetretenes Mooskissen. Mit einem zufriedenen Lächeln richtete sie sich auf, folgte der Spur und entdeckte weitere, verräterische Hinweise darauf, dass jemand kurz vor ihr hier gewesen war: noch mehr geknickte Äste, noch mehr niedergetretenes Moos und eine frische Schleifspur im trockenen Laub, das den Waldboden bedeckte. Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf Arris Zügen aus, als ihr klar wurde, wie wenig Rücksicht ihre Mutter auf ihrem Weg zwischen den Bäumen hindurch genommen hatte; aber die Erkenntnis ärgerte sie auch ein wenig. Sie kannte ihre Mutter nun wahrlich gut genug, um zu wissen, dass sie es ihr nicht absichtlich leicht machen würde. Vielmehr bewies die schon fast überdeutliche Spur, der sie tiefer in den Wald hinein folgte, wie gering ihre Mutter ihre Fähigkeiten einschätzte.

Plötzlich verhielt sie im Schritt. Im allerersten Moment wusste sie selbst kaum, warum, dann wurde ihr klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Die Spur aus geknickten Ästen und achtlos beiseite gefegtem Laub führte geradeaus weiter, was nichts anderes bedeutete, als dass ihre Mutter sich irgendwo dort vorne verbarg, und doch hatte sie für einen winzigen Moment das eindringliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam drehte sie sich einmal im Kreis, sah sich dabei aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen um und setzte ihren Weg schließlich fort, als sie nichts anderes als Schatten und Dunkelheit gewahrte.

Sie hatte noch keine drei Schritte getan, als es über ihr in der Baumkrone raschelte. Erschrocken fuhr Arri herum, aber ihre Bewegung kam zu spät. Ein Schatten stürzte aus den Ästen des Baumes herab, unter dem sie gerade hindurchgegangen war, und ihr blieb nicht einmal Gelegenheit für einen überraschten Ausruf, da wurde sie auch schon getroffen und so wuchtig zu Boden gerissen, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Als sie wieder sehen konnte, lag sie lang ausgestreckt auf dem Rücken, und ihre Mutter kniete auf ihr und drückte ihr einen fingerlangen, abgebrochenen Stock gegen die Kehle. »Wenn das hier ein Messer wäre, dann wärst du jetzt tot«, sagte sie ernst.

Arri hätte ihr gern geantwortet, aber sie wagte es nicht. Lea hielt zwar eindeutig kein Messer in der Hand, aber das zersplitterte Ende des Astes war kaum weniger scharf als eine Klinge, und sie drückte es mit solcher Kraft gegen ihren Hals, dass es wirklich wehtat. Alles, was sie als Reaktion wagte, war ein angedeutetes Kopfnicken.

Ihre Mutter hielt die Astspitze gerade lange genug gegen ihre Kehle, dass es wirklich unangenehm wurde, dann stand sie mit einer fließenden Bewegung auf, ließ den Ast fallen und streckte ihr die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Ganz instinktiv wollte Arri danach greifen, aber dann siegte ihr Stolz, und sie erhob sich aus eigener Kraft. Lea sah ihr mit unbewegtem Gesicht zu, aber Arri meinte trotzdem, so etwas wie einen zufriedenen Ausdruck in ihren Augen zu erkennen.

»Weißt du, warum es mir gelungen ist, dich zu überraschen?«, fragte sie.

»Du hast dich in den Ästen versteckt.«

»Und du hast es gemerkt«, antwortete Lea. »Habe ich Recht?«

Arri erinnerte sich an das Gefühl, beobachtet zu werden, und antwortete mit einer Bewegung, die eine Mischung aus einem widerwilligen Nicken und einem Schulterzucken war. »Mmm.«

»Du hast es gemerkt«, beharrte ihre Mutter. »Warum bist du trotzdem weitergegangen?«

»Weil deine Spur in den Wald hineingeführt hat«, erwiderte Arri. Sie bemühte sich, ein möglichst zerknirschtes Gesicht zu machen.

»Ah ja, meine Spur.« Lea schüttelte den Kopf. »Eine ziemlich auffällige Spur, findest du nicht? Ich musste mir richtig Mühe geben, um sicher zu sein, dass du sie auch siehst. Du bist nicht auf die Idee gekommen, dass niemand, der nicht wie ein blindwütiger Ochse durch den Wald trampelt, eine so auffällige Spur hinterlassen würde? Es sei denn, er will, dass du sie siehst?«

»Nein«, gestand Arri zerknirscht.

»Und du bist auch nicht auf die Idee gekommen, dass ich genau auf dieser Spur zurückgehen und mich im Hinterhalt auf die Lauer legen könnte?«, fuhr Lea fort.

Diesmal antwortete Arri gar nicht, sondern sah sie nur betroffen an.

»Du musst wirklich noch viel lernen«, seufzte ihre Mutter. »Deine Sinne sind scharf, sonst hättest du nicht gespürt, dass ich dich beobachte, aber du weißt so erbärmlich wenig darüber, wie du sie benutzen musst.«

»Ich verstehe das nicht!«, begehrte Arri auf. »Was tun wir hier? Warum soll ich das alles lernen? Ich werde es ja trotzdem nie auch nur mit einem einzigen von Nors Kriegern aufnehmen können, wenn sie kommen sollten, um mich zu holen!«

»Darum geht es auch gar nicht. Ich will dir beibringen, am Leben zu bleiben. Ich...« Lea brach ab, biss sich auf die Unterlippe und schüttelte dann heftig den Kopf, als hätte sie sich selbst eine Frage gestellt und auch beantwortet. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme deutlich sanfter. »Bitte verzeih. Ich weiß, ich verlange zu viel von dir. Es ist nicht deine Schuld, dass ich zu lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen habe. Aber ich fürchte, uns bleibt nur noch wenig Zeit, und da ist so viel, was du noch lernen musst.« Plötzlich erschien ein fast mildes Lächeln auf ihren Zügen. »Sag es ruhig, wenn ich wieder zu viel von dir verlange.«

»Du verlangst nicht zu viel«, antwortete Arri, Worte, die schon allein ihr Stolz ihr gebot. »Ich würde nur gern verstehen, was wir überhaupt hier tun. Ist es wirklich wegen Nor? Oder doch eher wegen der fremden Krieger, von denen Grahl erzählt hat?«

Wieder antwortete ihre Mutter nicht gleich, sondern sah sie abschätzend an. Dann hob sie die Schultern. »Grahl ist ein Dummkopf und ein Großmaul. Es würde mich nicht wundern, wenn die Krieger, von denen er erzählt hat, in Wahrheit auf vier Hufen laufen und Hauer im Gesicht tragen.«

»Krons Arm sah nicht aus, als wäre er von einem Wildschwein verletzt worden«, gab Arri zu bedenken, doch ihre Mutter lachte nur leise.

»Du hast noch nie gesehen, wozu ein wütender Keiler wirklich fähig ist, wie?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Aber wahrscheinlich hast du Recht. Ich vermute, sie sind tatsächlich angegriffen worden - auch wenn ich eher glaube, dass es Jäger eines anderen Stammes waren, in deren Gebiet Grahl und seine Brüder gewildert haben.«

»Und warum dann das alles hier?«, fragte Arri.

»Weil Nor nicht mehr zurück kann und mich zu einer Entscheidung zwingen muss, wenn er nicht vor seinen Priestern das Gesicht verlieren will. Selbst wenn wir es bis zum Frühling herauszögern können: Irgendwann müssen wir hier weg.«

»Und du glaubst, wir werden wie Männer kämpfen müssen, dort, wo wir hingehen?«, fragte Arri besorgt.

»Als ich damals hierher kam, musste ich es«, antwortete ihre Mutter ernst. »Ich hoffe, du wirst nichts von alledem brauchen, was ich dir beibringen werde, aber...«