»Das haben wir nicht!«, protestierte Rahn, aber Dragosz schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.
»Wieso sind sie dann so schnell und zielsicher auf dem Weg hierher, als wüssten sie ganz genau, wo wir sind?«, schnappte er, atmete hörbar ein, um womöglich noch lauter fortzufahren, und drehte sich dann plötzlich halb herum und blickte auf Kron hinunter.
»Was?«, murmelte der Jäger.
Dragosz’ Stimme klang plötzlich fast versonnen, als er weitersprach. »Ich habe in der Tat keine Wagenspuren auf dem Weg hierher bemerkt. Und ich bin eigentlich ein recht guter Spurenleser.«
»Du meinst, du hast Rahn Unrecht getan?«, fragte Arianrhod.
Dragosz warf ihr einen ärgerlichen Blick aus den Augenwinkeln zu, starrte aber weiterhin den Einarmigen an. »Aber wenn sie nicht euren Spuren gefolgt sind«, fuhr er fort, »woher können sie dann wissen, wo wir sind?«
»Was willst du damit sagen?«, erkundigte sich Kron lauernd.
»Dieses Versteck hier war dein Vorschlag, nicht wahr?«, erwiderte Dragosz.
Kron starrte einen halben Herzschlag lang verblüfft zu ihm hoch, dann sprang er mit einem Ruck auf. »Willst du etwa behaupten, ich hätte euch verraten?«, zischte er.
»Ich sage nur, dass außer dir niemand wusste, wo wir uns treffen wollen«, gab Dragosz beinahe gelassen zurück.
Krons Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Einen Moment lang sah es beinahe so aus, als wolle er sich auf Dragosz stürzen, dann aber trat er stattdessen wieder einen halben Schritt zurück. »Wenn ich nicht nur einen Arm hätte, dann würdest du es nicht wagen, so mit mir zu sprechen.«
Dragosz lächelte dünn. »Ich lasse mir gern den rechten Arm auf den Rücken binden, wenn das alles ist.«
»Schluss jetzt!«, mischte sich Lea in scharfem Ton ein. Wütend musterte sie die beiden Männer abwechselnd. »Seid ihr verrückt geworden? Sarns Krieger werden gleich hier sein, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als aufeinander loszugehen? Wir müssen hier weg!«
»Welchen Sinn hätte es schon, weiter vor ihnen zu fliehen, wenn sie doch ganz genau wissen, wo sie uns finden können?«, antwortete Dragosz.
»Aber ich habe euch nicht verraten!«, protestierte Kron. »Warum sollte ich das tun?«
»Damit hat er Recht«, sagte Arianrhod. Sie deutete auf Kron. »Wenn es jemanden gibt, der weiß, wie groß Sarns Dankbarkeit ist, dann diese beiden. Sarns Krieger werden sie genau so töten wie uns, wenn sie sie erwischen.«
»Aber wenn er uns nicht verraten hat, wer dann?«, beharrte Dragosz. Er klang ein ganz kleines bisschen unsicher, aber auch verstockt, als fände er keinen rechten Einwand, der gegen Arianrhods Worte sprach, wollte das aber nicht zugeben.
»Wer weiß noch von dieser Lichtung?«, mischte sich Lea ein.
Kron schüttelte den Kopf. »Niemand«, antwortete er überzeugt, schwieg einen Moment zu und fügte dann, leiser, hinzu: »Außer meinem Bruder. Aber Grahl würde uns niemals verraten.«
»Grahl«, verbesserte ihn Lea, »würde seine eigenen Kinder verraten, wenn er sich einen Vorteil davon verspräche.«
Dragosz sah immer noch nicht überzeugt aus, und selbst Arianrhod musste sich eingestehen, dass sie es nicht wirklich war. Aber ihre Mutter hatte Recht: Jetzt war nicht der Augenblick, sich darüber zu streiten.
»Verschwinden wir von hier«, sagte Lea. Fragend blickte sie Rahn an und deutete zugleich auf den Karren. »Wo habt ihr die Ochsen versteckt?«
»Ganz in der Nähe«, antwortete er Rahn, »ich...«
»Dafür bleibt keine Zeit mehr«, fiel ihm Dragosz ins Wort. »Wir müssen den Wagen hier lassen.«
»Aber...«, protestierte Kron, doch diesmal war es Dragosz, dem Lea zu Hilfe kam.
»Er hat Recht«, sagte sie in bedauerndem, aber auch festem Ton. »Mit dem Wagen wären wir viel zu langsam.«
»Alles was wir haben, ist darauf«, sagte Achk leise.
»Ihr werdet nichts mehr davon brauchen, wenn sie uns einholen«, antwortete Dragosz. Mit einer abrupten und jetzt eindeutig befehlenden Geste wandte er sich an Lea. »Geh und such nach den Pferden. Und ihr«, fuhr er an Rahn und die beiden anderen gewandt fort, »nehmt euch so viel vom Wagen, wie ihr tragen könnt. Schnell, beeilt euch.«
Lea eilte gehorsam davon und verschwand im Unterholz, während Kron und Rahn hastig an den Wagen herantraten und scheinbar wahllos nach einigen Bündeln und Säcken griffen, die auf der Ladefläche lagen. Auch Arianrhod wollte sich ihren Teil nehmen, doch Rahn schüttelte nur barsch den Kopf und scheuchte sie davon.
»Was soll das?«, protestierte Arianrhod. »Ich kann genauso gut etwas tragen wie ihr alle!«
»Für dich habe ich eine andere Aufgabe«, erwiderte Rahn, während er konzentriert einige kleinere Beutel in einen größeren Sack stopfte, den er in der linken Hand trug und schließlich hastig verschnürte. Für einen Mann seiner Größe fand Arianrhod das Gepäckstück allerdings eher bescheiden; selbst sie hätte sich zugetraut, es zu tragen, auch über eine größere Strecke hinweg.
Binnen weniger Augenblicke waren sie fertig und hatten einen erstaunlichen Teil dessen, was auf den Wagen gelegen hatte, zusammengerafft. Kron schwang sich einen Beutel über die Schulter, der aussah, als wöge er fast so viel wie er selbst, während Rahn sich mit seiner bescheidenen Last zufrieden gab und Arianrhod, als sie protestieren wollte, nur mit einer neuerlichen, noch ungeduldigeren Geste davonscheuchte. Während er mit der linken Hand ohne Mühe seinen Beutel umklammerte, ergriff er mit der rechten Achks Ellbogen und schob den Blinden unsanft vor sich her in Richtung des Waldrandes.
Ihre Mutter kam bereits zurück, die beiden Pferde neben sich am Zügel führend, während Dragosz nur ein paar Schritte entfernt dastand und mit beiden Armen in Richtung des bewaldeten Hügelkammes gestikulierte, als Arianrhod und die drei anderen auf der anderen Seite aus dem Wald heraustraten. Sie sah einen Moment lang konzentriert in die angegebene Richtung, konnte aber dort oben rein gar nichts erkennen; vielleicht gab Dragosz jemanden ein Zeichen, den er dort oben postiert hatte.
»Wo kann nur Morgenwind sein?«, empfing Arianrhod ihre Mutter und sah sich suchend um. Von der gescheckten Stute war keine Spur zu sehen.
»Sie ist irgendwo in der Nähe, keine Sorge«, antwortete Lea unwillig. »Sie wird uns schon finden.« Sie ließ Sturmwinds Zügel los und machte eine abwehrende Bewegung mit der frei gewordenen Hand, als Arianrhod die Arme ausstreckte, um auf Nachtwinds Rücken zu klettern. »Nicht jetzt.«
»Warum nicht?«, fragte Arianrhod.
»Weil wir laufen«, erwiderte Lea. »Zumindest so lange, wie es geht.«
Arianrhod setzte zu einem Einwand an, aber dann gewahrte sie das zornige Funkeln in den Augen ihrer Mutter und begriff nur einen Augenblick später den Sinn ihrer Worte. Noch einen Augenblick später hatte sie ein ziemlich schlechtes Gewissen. Sie selbst hatte Rahn noch eben einen kleinen Vortrag über Gerechtigkeit gehalten, aber die Vorstellung, dass sie bequem auf Nachtwinds Rücken sitzen sollte, während die drei anderen zu Fuß unterwegs waren und sich noch dazu mit ihrem Gepäck abplagten, hatte wahrhaftig nicht viel mit Gerechtigkeit zu tun.
Sie warf einen scheuen Blick zu Rahn und dem Blinden zurück, wie um sich davon zu überzeugen, dass er auch nichts mitbekommen hatte, aber Rahn sah nicht einmal in ihre Richtung. Er war stehen geblieben und damit beschäftigt, mit spitzen Fingern einen langen, dornigen Zweig aus Achks Bart zu zupfen, der sich darin verfangen hatte. Der blinde Schmied sah hilfloser aus denn je. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er blinzelte nicht, was seinem Blick etwas ungemein Erschreckendes verlieh, aber er hatte ganz eindeutig verstanden, worum es ging. Seine Angst war unübersehbar.
Seltsam, dachte Arianrhod. Seit jenem schrecklichen Tag, an dem Achk seine Augen verloren hatte, hatte sie mehr als einmal versucht, sich vorzustellen, wie es sein musste, in einer Welt ewiger Dunkelheit gefangen zu sein, selbst bei den einfachsten Dingen des Lebens auf die Hilfe anderer angewiesen und noch dazu von den allermeisten verspottet und verachtet oder doch bestenfalls gemieden zu werden, und sie war jedes Mal zu demselben Schluss gekommen: nämlich dem, dass sie ein solches Leben auf gar keinen Fall würde leben wollen. Nun aber war Achk mehr als deutlich anzusehen, wie sehr er um genau dieses Leben fürchtete.