»Worauf warten wir noch?«, fragte Dragosz. »Wir müssen los.«
Arianrhod war nicht ganz sicher, wem diese Worte galten - ihr oder Rahn und dem Blinden. Rahn jedenfalls führte seine Arbeit in aller Ruhe und mit großer Sorgfalt zu Ende, bevor er das Bündel über seine linke Schulter warf und Achk mit der anderen Hand wieder am Ellbogen ergriff. »Geh einfach«, sagte er. »Ich passe schon auf, wohin du trittst.«
Dragosz verzog verächtlich die Lippen, und zumindest für diesen Augenblick büßte er eine Menge der Zuneigung ein, die Arianrhod für ihn empfand; wenn nicht alle. Vielleicht hatte Rahn ja Recht. Vielleicht hätte er an Dragosz’ Stelle nicht anders entschieden. Vielleicht hätte sogar sie selbst an seiner Stelle nicht anders entschieden, hätte sie ein Leben wie er geführt und wäre für so viele andere verantwortlich gewesen. In diesem Moment jedoch verachtete sie Dragosz für das, was sie in seinem Gesicht las. Der blinde Mann war für ihn kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Last.
Sie gingen los. Obwohl Kron mit Abstand die schwerste Last trug, setzte er sich nicht nur an die Spitze, sondern eilte ihnen auch bald in größer werdendem Abstand voraus. Lea hatte die beiden Pferde losgelassen, die ihr jedoch in wenigen Schritten Abstand folgten, während Rahn und der Blinde nur ganz allmählich, aber doch unaufhörlich zurückfielen. Rahn versuchte alles, um Achk anzutreiben, aber der Schmied war nicht nur blind, sodass er trotz seiner Führung vorsichtig immer nur einen Fuß vor den anderen setzte und dennoch mehr als einen Fehltritt tat, er war auch alt und hätte vermutlich auch dann nicht mit ihnen mitgehalten, hätte er sehen können.
Sie waren noch nicht allzu lange unterwegs, als Dragosz plötzlich stehen blieb und abermals den Arm hob, um zu winken. Auch Arianrhod und die anderen hielten an und drehten sich neugierig herum. Barosch, der Krieger, den er weggeschickt hatte, kam mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zugerannt. Für einen Moment hatte Arianrhod das Gefühl, weit hinter ihnen noch eine andere Bewegung wahrzunehmen, als wären die Verfolger tatsächlich schon fast heran, doch als sie noch einmal hinsah, war da nichts.
Dragosz blieb stehen, bis der Krieger zu ihnen aufgeschlossen hatte, und tauschte ein paar, knappe, nicht besonders fröhlich klingende Worte mit ihm. Als er sich wieder zu ihnen umdrehte, sah sein Gesicht noch sehr viel weniger fröhlich aus. »Sie holen auf. Wenn wir weiter so herumtrödeln, haben sie uns bald eingeholt.«
»Dann nimm die Pferde und reite mit Arianrhod voraus«, sagte Lea. »Ich bleibe hier bei den anderen und versuche sie aufzuhalten.«
Dragosz machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Stattdessen drehte er sich zu Rahn und dem Blinden um. »Wir werden laufen müssen, nicht spazieren gehen. Du musst den Alten zurücklassen.«
»Niemals!«, keuchte Arianrhod.
Dragosz würdigte sie nicht einmal eines Blickes. »Versuch ein Versteck für ihn zu finden. Mit ein bisschen Glück achten sie nicht weiter auf ihn. Schließlich wollen sie uns.«
Als ob das einen Unterschied machte, dachte Arianrhod entsetzt. Wenn sie den blinden Mann allein hier zurückließen, konnten sie ihm ebenso gut gleich die Kehle durchschneiden.
Wahrscheinlich wäre das barmherziger gewesen. Rahn schüttelte denn auch nur den Kopf und starrte Dragosz trotzig an.
»Ganz wie du willst«, sagte Dragosz böse. »Du kannst meinetwegen auch bei ihm bleiben und deinen Freund verteidigen. Wir werden jetzt jedenfalls laufen.«
»Genau wie wir«, gab Rahn grimmig zurück. Dragosz schenkte ihm nur ein mitleidiges Lächeln, doch Rahn schien diese Worte durchaus ernst zu meinen. Er starrte sein Gegenüber noch einen Moment lang trotzig und fast herausfordernd an, dann hob er die linke Hand und winkte Arianrhod zu sich heran. »Hier«, sagte er, während er ihr den Beutel hinhielt. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich eine andere Aufgabe für dich habe.«
Arianrhod griff ganz automatisch nach dem aus Tierhäuten gefertigten Beutel und stellte fest, dass er nicht annähernd so leicht war, wie sie angenommen hatte. Dennoch schwang sie ihn sich klaglos über die Schulter, während Rahn nun vor Achk Aufstellung nahm und leicht in die Hocke ging. Als er sich klein genug gemacht hatte, griff er nach den Armen des Blinden, legte sie sich um die Schultern und bedeutete Achk, sie vor seinem Hals zu verschränkten. Dann griff er mit beiden Armen unter die Kniekehlen des Schmieds und hob ihn hoch. »Jetzt können wir laufen.«
Dragosz zog eine abfällige Miene. »Narr«, sagte er, beließ es aber dabei und drehte sich um, um noch in derselben Bewegung in einen raschen Trab zu fallen. Auch Kron stürmte los, während Lea Arianrhod zu sich heranwinkte und ihr wortlos den Beutel abnahm. Arianrhod wollte protestieren - denn trotz allem, was sie in den letzten Tagen und besonders am heutigen Morgen durchgemacht hatte, war sie nicht sehr viel schwächer als ihre Mutter -, doch Lea hatte gar nicht vor, den Beutel selbst zu schultern. Stattdessen rief sie Nachtwind mit einem scharfen Pfiff heran, warf ihm den Sack über den Rücken und hielt ihn fest, während sie sich gleichzeitig mit den Fingern in seine Mähne krallte. Mit dem Kopf deutete sie auf Sturmwind, die ihrem Gefährten gefolgt war. »Halt dich an ihr fest. Sie wird dich ziehen.«
Arianrhod sah nicht wirklich ein, was das bringen sollte, aber sie gehorchte ihrer Mutter auch jetzt und suchte mit den Fingern Halt in der langen Mähne der Stute, als Nachtwind und ihre Mutter losstürmten und Sturmwind sich ihnen anschloss. Rahn, der den Blinden auf dem Rücken trug wie ein Vater sein kleines Kind, war bereits losgelaufen und legte eine Geschwindigkeit vor, die Arianrhod in Erstaunen versetzte. Sie hätte erwartet, dass er allerhöchstens ein wenig schneller gehen würde, aber der Fischer fegte vor ihr über das Gras, dass sie alle Mühe hatte, nicht zurückzufallen.
Schon nach den ersten Schritten spürte sie, dass ihre Mutter Recht gehabt hatte. Es war zwar ein wenig unbequem, die Hand auf dem Hals der Stute liegen zu lassen; sie hatte auch nicht vergessen, was ihre Mutter ihr über Sturmwind erzählt und was sie selbst mit ihr erlebt hatte, und hütete sich, zu fest zuzugreifen, um ihr nicht etwa aus Versehen wehzutun, was sie mit Sicherheit mehr bereut hätte als das Pferd, und dennoch war es genau wie vorhin bei Nachtwind: die bloße Berührung schien schon auszureichen, um ihr einen Teil der unglaublichen Kraft dieses riesigen, starken Geschöpfes zu geben. Sturmwind zog sie tatsächlich mit sich, ihre Füße flogen nur so über den Boden, und obwohl sich ihr verletztes Knie und nur einen Augenblick später auch ihre Schulter schon wieder schmerzhaft in Erinnerung brachten, spürte sie doch, dass sie die Geschwindigkeit auf diese Weise lange durchhalten würde.
Und vermutlich musste sie das auch. Das ehemalige Flusstal lag so weit und frei vor ihnen, wie sie nur sehen konnte. Nahe der Stelle, an der sie sich mit Rahn und den anderen getroffen hatten, war der Boden grasbewachsen und einigermaßen eben gewesen, nun aber wurde er immer steiniger, das Gras schrumpfte zu kleinen, kümmerlich wachsenden Büscheln, und es gab nur noch sehr wenige Bäume, die vereinzelt standen oder in so winzigen Gruppen, dass sie allenfalls als ein Versteck für einen einzigen Menschen ausgereicht hätten, und wahrscheinlich nicht einmal das. Von Dragosz’ Männern war keine Spur zu sehen. Sie konnten nur hoffen, ihren Verfolgern wenigstens bis Sonnenuntergang davonzulaufen, um dann - vielleicht - Schutz im Dunkel der Nacht zu finden.