Arianrhod legte im Laufen den Kopf in den Nacken und suchte aus zusammengekniffenen Augen nach der Sonne. Sie hatte ihren Abstieg schon lange begonnen, aber es würde noch eine Weile dauern, bevor es stockfinster wurde. Selbst wenn ihre Kräfte reichten, um so lange durchzuhalten (was sie bezweifelte), würden ihre Verfolger sie bis dahin vermutlich längst eingeholt haben. Sie liefen schnell, aber längst nicht so schnell, wie es ein Mann konnte, der nichts als seine Kleider und seinen Speer mit sich trug. Auch wenn die Krieger Gosegs an diesem Morgen keine wirklich gute Figur gemacht hatten, so beging Arianrhod doch nicht den Fehler, sie zu unterschätzen. Die meisten von ihnen waren jung und kräftig, sie bekamen das beste Essen und wussten mit ihren Waffen umzugehen.
Nein, dachte sie niedergeschlagen, diese Männer würden sie einholen, lange bevor die Sonne untergegangen war. Verzweiflung begann sich in ihr breit zu machen. Arianrhod hatte keine Angst um ihr Leben. Sie wusste, dass Dragosz, ihre Mutter und sie ihren Verfolgern auf jeden Fall entkommen würden, wenn sie auf die Pferde stiegen und einfach davonritten. Aber das würde den sicheren Tod für Rahn und die anderen bedeuten. Ihr Blick suchte immer hektischer die Ränder des Flusstales ab. Das Gelände zur Linken war nahezu unbewachsen und eben, so weit sie es von hier unten aus erkennen konnte, das zur Rechten mit umso dichterem Wald bestanden. Der Aufstieg dorthin würde mühsam sein und viel Kraft kosten, doch es gab überall Stellen, an denen er zumindest möglich schien. »Dragosz!«, rief sie.
Dragosz wandte im Laufen den Kopf und sah zu ihr zurück. Arianrhod hob die freie Hand und winkte ihm zu, und Dragosz ließ sich zurückfallen, bis er neben ihr herlief.
»Warum verstecken wir uns nicht in den Wäldern dort oben?«, fragte sie mit einer entsprechenden Geste.
Dragosz’ Blick folgte der Bewegung, aber er schüttelte fast sofort den Kopf. »Unmöglich.« Obwohl er ebenso lange und schnell gelaufen war wie sie, ging sein Atem nicht einmal spürbar schneller, was Arianrhod einigermaßen unverschämt fand. »Sie würden uns finden. Außerdem kommen uns meine Männer durch dieses Tal entgegen.«
Unwillkürlich sah Arianrhod noch einmal nach vorn. Von den Männern, von denen Dragosz immer wieder gesprochen hatte, war noch nichts zu sehen, sodass sie sich allmählich zu fragen begann, ob es sie überhaupt gab oder ob das Heer, das er zu ihrer Rettung hierher befohlen hatte, vielleicht nicht nur aus den beiden Kriegern in ihrer Begleitung bestand; möglicherweise sogar nur aus einem, den anderen hatte sie bisher ja auch noch nicht zu Gesicht bekommen.
Geradezu schuldbewusst verscheuchte sie den Gedanken. Dragosz mochte vieles sein, aber kein Lügner und ganz bestimmt kein Aufschneider. Wahrscheinlich befanden sich die Männer noch hinter der Biegung des Flusstales, auf die sie sich zubewegten. Aber auch diese war so weit entfernt, dass sie sie frühestens bei Sonnenuntergang erreichen würden. Wenn ihre Kräfte so lange reichten.
Dragosz beschleunigte seine Schritte wieder, um erneut zu Barosch aufzuschließen, der mittlerweile auch Kron überholt hatte und die Spitze bildete, warf dabei aber im Laufen noch einen Blick über die Schulter zurück und fuhr sichtbar zusammen. Auch Arianrhod sah nach hinten - und was sie erblickte, das ließ sie so heftig zusammenzucken, dass sie um ein Haar aus dem Tritt gekommen wäre und nur deshalb nicht stolperte, weil sie sich in Sturmwinds Mähne festklammerte und so das Gleichgewicht hielt.
Sie hatte sich vorhin doch nicht getäuscht. Die Bewegung hinter ihr war dagewesen; vielleicht noch zu weit entfernt, um wirklich Einzelheiten zu erkennen, aber sie war da. Es waren ihre Verfolger, und sie näherten sich entsetzlich schnell, waren sie doch in den wenigen Augenblicken, die seit dem Beginn ihrer Flucht vergangen waren, nahe genug gekommen, um von einer bloßen Ahnung zu flackernden Schemen zu werden. Voller Panik versuchte sie ihr Tempo gegen Sturmwinds Willen zu steigern, aber nur für ein paar Schritte, dann fiel sie wieder in den gewohnten, Kräfte sparenden Trab zurück, den sie alle eingeschlagen hatten. Es brachte überhaupt nichts, sich bei dem verzweifelten Spurt zu verausgaben und hinterher dann umso langsamer zu werden.
Auch Lea und die anderen hatten ihre Verfolger erblickt. Kron wurde tatsächlich noch einmal schneller und holte nun fast zu Dragosz und dem anderen Krieger auf, während Rahn anscheinend vollkommen ungerührt weiterlief. Arianrhod, die mittlerweile schweißgebadet und außer Atem war, fragte sich vergeblich, wie der Fischer dieses Tempo durchhielt, mit Achks Gewicht auf dem Rücken. Aber ihr war auch klar, dass seine Kräfte irgendwann versagen mussten. Und dass Dragosz Recht gehabt hatte. Sie würden Achk nicht retten können. So grausam ihr der Gedanke auch selbst vorkam - wenn Rahn daran festhielt, den Schmied nicht im Stich zu lassen, dann war das sein eigenes und vielleicht sogar ihrer aller Todesurteil.
Sie spürte, wohin dieser Gedanke zu führen drohte, und brach ihn erschrocken ab. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, niemals aufzugeben, solange es noch ein Fünkchen Hoffnung gab, ja, selbst dann nicht, wenn es das nicht mehr gab - und war der heutige Morgen nicht das beste Beispiel dafür, wie Recht sie damit gehabt hatte? Noch hatten ihre Verfolger nicht zu ihnen aufgeschlossen.
Aber sie holten auf. Als Arianrhod das nächste Mal - nach Jahren, die sie wie von Sinnen gelaufen war, wie es ihr vorkam - zu ihnen zurücksah, waren aus der bloßen Ahnung ihrer Verfolger winzige Gestalten geworden, Ameisen gleich, die über die Ebene hinter ihnen herankrabbelten, nicht mehr als kleine schwarze Pünktchen, aber erschreckend viele. Sie waren noch lange nicht nahe genug heran, um sie zu zählen, aber die Schätzung des Kriegers musste wohl eher zu vorsichtig gewesen sein. Wie es aussah, hatte Sarn jeden Mann, der die Katastrophe am Morgen halbwegs unbeschadet überstanden hatte, hinter ihnen hergeschickt.
Schon wieder der Panik nahe, sah sie nach vorne. Die Talbiegung schien überhaupt nicht näher gekommen zu sein, wie es ihr vorkam. Und selbst, wenn sie sie erreichten - was war damit gewonnen? Vermutlich erwartete sie dort nichts anderes als eine Fortsetzung des Flusstales, ja, selbst wenn Dragosz’ Krieger in genau diesem Augenblick hinter der Biegung aufgetaucht wären, wären sie wahrscheinlich zu spät gekommen, denn das Tal zog sich vor ihnen noch erschreckend weit hin.
Weiter und weiter rannten sie dem Ende des Tales entgegen. Arianrhod wollte es nicht, aber sie sah dennoch immer wieder zu den Verfolgern zurück, und sie schienen jedes Mal ein winziges Stückchen näher gekommen zu sein. Nicht so sehr, dass man den Unterschied direkt ausmachen konnte, aber viele winzige Schritte ergaben am Ende doch einen großen, und schon bald waren aus den wimmelnden Ameisen winzige Gestalten geworden, dann Männer in schwarzen Mänteln und mit wehenden Haaren, die ganz langsam, aber auch unbarmherzig aufholten.
»Das... das hat... keinen... Sinn mehr«, keuchte Rahn vor ihr. Er war nicht langsamer geworden, aber er taumelte jetzt mehr, als dass er wirklich lief, wie Arianrhod erschrocken feststellte, und sein Atem ging pfeifend. »Steigt... auf eure... Tiere. Ihr könnt ihnen... entkommen.«
Arianrhod legte einen kurzen Spurt ein, um an seine Seite zu gelangen. Rahns Gesicht war aschfahl, und sein langes Haar und Bart klebten in verschwitzten Strähnen aneinander. Auch ihre Mutter war näher gekommen und rannte nun, eine Hand immer noch auf Nachtwinds Hals, auf Rahns anderer Seite dahin.
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, gab Arianrhod keuchend zurück. »Wir lassen euch nicht im Stich!«
»Wir können versuchen, den Hang hinaufzukommen«, antwortete Rahn kurzatmig. »Vielleicht verfolgen sie uns ja nicht. Du hast es selbst gesagt. Sie wollen nur euch.«
Arianrhod schüttelte nur noch heftiger den Kopf. »Wir bleiben zusammen, ganz gleich, was passiert«, beharrte sie.
»Was für eine edle Geste«, mischte sich ihre Mutter ein. »Wie schade nur, dass du nicht zu bestimmen hast. Rahn hat Recht. Sie werden uns einholen. Der einzige Unterschied ist, dass wir dann alle sterben.« Sie machte eine Kopfbewegung zu Nachtwind hin und ließ gleichzeitig den Beutel los, den sie noch immer in der Hand gehabt hatte. Er fiel zu Boden, platzte auf und verteilte seinen Inhalt in weitem Umkreis, während sie sich rasch davon entfernten. »Steig auf.«