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Arianrhod tat so, als hätte sie die Worte gar nicht gehört. Verzweiflung ergriff in immer stärkerem Maße von ihr Besitz. »Nein!«, keuchte sie. »Ich lasse dich nicht im Stich!« Beinahe flehend wandte sie sich an ihrer Mutter. »Und wenn wir alle auf die Pferde steigen?«

»Das schaffen sie nicht«, antwortete Lea. »Und sie würden es auch nicht tun.«

»Aber den Schmied könnten wir doch wenigstens auf Nachtwind hieven! Dann braucht Rahn ihn nicht mehr zu tragen, und wir alle sind schneller.«

»Achk könnte sich niemals auf dem Pferderücken halten, und wenn ich Nachtwind führen müsste, werden wir alle nur langsamer«, beschied Lea ungeduldig.

»Und wenn nun ich und der Schmied...«

»Nein!«, fiel Lea ihr ins Wort. »Nachtwind war schon kaum bereit, uns beide zu tragen, obwohl er uns so gut kennt. Dich und den Schmied? Das würde er nur mit viel gutem Zureden tun. Und dazu fehlt uns die Zeit.«

Arianrhods Verzweiflung erreichte ein Ausmaß, das fast körperlich wehtat. Sie spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen, und dann sagte sie etwas, wofür sie sich selbst hasste. »Dann komm du wenigstens mit, Rahn.«

Achk, der auf Rahns Rücken hin und her geschaukelt wurde wie ein lebloses Gepäckstück und seine liebe Mühe hatte, sich irgendwie festzuhalten, sah nicht einmal in ihre Richtung, und sie war auch fast sicher, dass er die Worte nicht gehört hatte. Trotzdem hatte sie das furchtbare Gefühl, mit einem Male von ihm angestarrt zu werden, auf eine Art, die sie vielleicht nie wieder vergessen konnte. Rahn hingegen sah sie nur traurig an, dann schüttelte er den Kopf. »Sie würden mich trotzdem einholen. Es hat keinen Sinn mehr. Hör auf deine Mutter. Du hilfst mir nicht, wenn du dich auch noch umbringen lässt.«

Für einen Moment konnte Arianrhod nichts mehr sehen, so heiße und so viele Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte sich ohnmächtig, wütend und hilflos. Sie wollte das nicht. Sie wollte das nicht!

Aber Rahn hatte Recht. Es gab nichts mehr, was sie noch für ihn tun konnte.

Außer, ihn im Stich zu lassen.

Sie lief trotzdem noch etliche Dutzend Schritte neben Rahn und ihrer Mutter her, bevor sie endlich Sturmwinds Mähne losließ, mit einem Satz bei dem schwarzen Hengst und nahezu aus der gleichen Bewegung heraus auf seinem Rücken war, und im nächsten Moment schwang sich Lea hinter ihr auf Nachtwind, und auch Dragosz ließ sich zurückfallen und streckte im Laufen die Hand nach Sturmwinds Mähne aus, um sich auf ihren Rücken zu ziehen. Barosch schlug einen blitzartigen Haken nach rechts und rannte plötzlich auf die bewaldete Seite des Tales zu, und auch Kron, der endlich auf die Idee kam, seinen Beutel fallen zu lassen, stürmte in dieselbe Richtung. Nur Rahn rannte stur weiter geradeaus. Und wahrscheinlich, dachte Arianrhod bitter, hatte er auch damit Recht. Es gab in der Richtung, in die Kron und der fremde Krieger rannten, keine Rettung für ihn. Mit Achks Gewicht auf dem Rücken würde er den steilen Hang niemals erklimmen können, und selbst wenn er den blinden Schmied zurückließ, würden seine Kräfte vermutlich einfach nicht mehr ausreichen. Arianrhod begann immer heftiger zu schluchzen. Noch vor gar nicht langer Zeit hatte sie geglaubt, Rahn zu hassen, doch nun begriff sie plötzlich, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Warum spürte man so oft erst, wie viel einem etwas wirklich wert war, wenn man es verlor?

Ihr blieb nicht einmal Zeit für einen Blick des Abschieds. Dragosz schrie: »Los!«, und Lea stieß Nachtwind die Fersen in die Seiten, woraufhin der Hengst einen regelrechten Satz nach vorn machte und in einen so rasenden Galopp verfiel, dass Arianrhod von seinem Rücken gestürzt wäre, hätte ihre Mutter nicht auch zugleich von hinten den Arm um sie geschlungen und sie festgehalten. Neben ihnen sprengte Dragosz im gleichen, rasenden Tempo los.

Mühsam drehte sich Arianrhod herum. Kron und Barosch hatten den Hang auf der anderen Seite beinahe erreicht, doch Rahn wurde nun sichtlich langsamer. Vielleicht versagten seine Kräfte endgültig, vielleicht sah er aber auch einfach keinen Sinn mehr darin, noch weiter zu laufen, denn es gab nichts mehr, wohin er noch hätte fliehen können. Die Verfolger holten jetzt rasch auf. Vielleicht wollte er sich seine letzten Kräfte aufsparen, um sich wenigstens noch verteidigen zu können, und sei es noch so sinnlos.

Und als Arianrhod den Kopf wieder nach vorn drehte und ihr Blick dabei noch einmal Kron und den fremden Krieger streifte, geschah das Wunder.

Kron krabbelte wie ein missgestalteter großer Käfer auf einer Hand und beiden Knien den Hang hinauf, weil er anscheinend zu erschöpft war, um sich noch auf den Beinen zu halten, Barosch aber war stehen geblieben. Sein Blick war auf die Bäume am oberen Ende der Böschung gerichtet.

Aus dem Unterholz traten Männer hervor. Sie waren ausnahmslos groß und dunkelhaarig, trugen dieselbe, sonderbare Kleidung wie Barosch und waren mit Speeren und runden, fellbespannten Schilden bewaffnet. Arianrhod zählte zwei, drei, fünf Männer, schließlich ein Dutzend oder noch mehr, die nacheinander aus dem dichten Gebüsch brachen und ohne zu zögern mit dem Abstieg begannen.

Ihre Mutter hatte Recht gehabt, dachte sie ungläubig. Es gab niemals einen Grund, die Hoffnung aufzugeben, und sei die Lage auch noch so aussichtslos.

Dragosz’ Krieger waren gekommen.

»Dragosz!«, schrie sie. »Da!«

Auch Dragosz drehte den Kopf, um in die Richtung zu sehen, in die ihre ausgestreckte Hand wies, und fuhr so heftig zusammen, dass er beinahe vom Pferd gefallen wäre. Zwei, drei Herzschläge lang galoppierte er noch weiter, dann riss er Sturmwind so grob zurück, dass das Pferd aufschrie und einen Buckel machte, um ihn abzuwerfen, brach seinen Widerstand aber sofort, und mit einer neuerlichen, noch brutaleren Bewegung zwang er es herum. Auch Lea riss Nachtwind herum, wenn auch nicht annähernd so brutal, wie Dragosz es getan hatte, dafür aber deutlich schneller, und sie jagten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Selbst über die mittlerweile große Entfernung hinweg konnte Arianrhod sehen, wie Rahn abrupt stehen blieb und sich ein verblüffter, ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete. Erst dann sah er in die Richtung, in die Arianrhod aufgeregt mit den Armen gestikulierte, und schien für einen Moment einfach zu erstarren. Langsam brach er in die Knie, ließ Achk so vorsichtig, wie er es nur konnte, von seinem Rücken gleiten, und sank dann ganz zu Boden, offensichtlich zu Tode erschöpft.

Dragosz’ Krieger, deren Zahl noch einmal zugenommen hatte, strömten immer rascher den Hang hinab, aber auch die Verfolger waren mittlerweile bedrohlich nahe gekommen. Aus den winzigen Gestalten waren Menschen geworden, deren Gesichter sie schon beinahe erkennen konnten. Sie hatten die neu aufgetauchte Gefahr entweder noch gar nicht bemerkt, oder sie ignorierten sie. Ohne langsamer zu werden, stürmten sie weiter heran. Arianrhod versuchte abzuschätzen, wer zuerst bei Rahn und dem Schmied ankommen würde - abgesehen von ihnen -, die Verfolger oder ihre neu aufgetauchten Verbündeten, aber es gelang ihr nicht. Sie konnte nur beten, dass es Dragosz’ Männer waren. Selbst zwei so gewaltige Kämpfer, wie es ihre Mutter und Dragosz zweifellos waren, wären einer derartigen Übermacht nicht gewachsen.

Kurz bevor sie den Fischer erreichten, nahm Lea Nachtwinds Geschwindigkeit plötzlich zurück und ließ ihn schließlich ganz anhalten. Auch Dragosz zügelte sein Pferd, sah Lea überrascht an und wirkte dann äußerst zufrieden - allerdings nur so lange, bis diese Arianrhod grob am Arm ergriff und geradezu von Nachtwinds Rücken herunterschubste. »Lauf«, zischte sie. »Renn zu den Männern!«