Arianrhod sah völlig verwirrt zu ihrer Mutter hoch. Was sollte das nun wieder bedeuten?
Statt irgendwie auf ihren verblüfften Blick zu reagieren, zog Lea ihr Schwert und ließ Nachtwind weitertraben. Auch Dragosz zog seine Waffe, wollte Sturmwind aber zur Seite lenken, um seinen näher kommenden Kriegern entgegenzureiten, und hielt dann wieder an. »Lea!«, rief er. »Was tust du?«
Lea antwortete nicht. Sie sah auch nicht zu ihm zurück, sondern hielt weiter auf Rahn und den blinden Schmied zu, lenkte den Hengst dann in einem engen Bogen um die beiden herum und hielt schließlich an.
»Lea!«, schrie Dragosz noch einmal. Seine Stimme überschlug sich fast. »Bist du verrückt geworden? Was tust du da?«
Arianrhods Mutter reagierte immer noch nicht. Hoch aufgerichtet und reglos saß sie auf Nachtwinds Rücken, hatte das Schwert halb in der rechten Hand erhoben und sah den heranstürmenden Kriegern aus Goseg ruhig entgegen.
Und dann erwachte auch Arianrhod aus ihrer Starre und folgte ihr.
Glaubte ihre Mutter tatsächlich, sie würde wegrennen und aus sicherer Entfernung zusehen, wie sie es ganz allein mit diesen Männern aufnahm?
Dragosz fluchte, zwang sein Pferd abermals herum und sprengte an ihr vorbei, um sich an Leas Seite zu postieren.
Arianrhod sah hastig nach links. Dragosz’ Kriegern war natürlich nicht entgangen, was geschah, und sie liefen jetzt noch schneller. Dennoch war Arianrhod klar, dass sie zu spät kommen mussten. Die Entfernung zwischen ihnen, ihrer Mutter und den anderen war mindestens doppelt so groß wie die, die noch vor den Verfolgern lag.
Trotzdem wurde sie nicht einmal langsamer. Der Verstand sagte ihr, dass sie drauf und dran war, sich umzubringen, aber derselbe Verstand sagte ihr auch, dass ihre Mutter keine Selbstmörderin war. Wenn sie bereit war, es ganz allein mit dieser Übermacht aufzunehmen, dann rechnete sie sich zumindest eine Möglichkeit aus, sie lange genug hinzuhalten, bis die Krieger heran waren. Und wenn nicht, wenn sich das Schicksal nach alledem einen so grausamen Scherz mit ihr erlauben sollte, dachte sie, wozu sollte sie dann noch leben? Wenn ihre Mutter, Dragosz und Rahn sterben sollten, dann hatte sie allenfalls noch die Wahl, entweder an Sarn ausgeliefert zu werden oder als Fremde in einem fremden Volk weiter zu leben, von dessen Sitten und Gebräuchen sie nichts verstand, dessen Sprache sie nicht einmal sprach und dessen Menschen ihr wahrscheinlich immer die Schuld am Tod ihres Anführers geben würden.
Sie eilte weiter, kam nach wenigen Schritten bei Rahn an und beugte sich ohne ein Wort zu ihm herab, um das Schwert aus seinem Gürtel zu ziehen. Der Fischer war im ersten Moment so verblüfft, dass er sie nur aus großen Augen anstarrte. Dann versuchte er zwar eine Bewegung zu machen, um sie zurückzuhalten, doch seine Kräfte reichten nicht einmal mehr dafür. Seine Brust hob und senkte sich so schnell, als wäre er dabei, zu ersticken.
Noch immer ohne ein Wort zu sagen, ging Arianrhod an ihm und Achk vorbei und nahm genau zwischen Sturmwind und Nachtwind Aufstellung. Dragosz blickte kurz auf sie herab und runzelte die Stirn, und ihre Mutter fragte nur, in fast belustigtem Ton: »Habe ich dir nicht befohlen wegzulaufen?«
»Ja«, sagte Arianrhod. »Aber du hast mir auch befohlen, auf dein Schwert Acht zu geben. Und so lange du es bei dir hast, kann ich das nicht tun, ohne in deiner Nähe zu bleiben.«
Dragosz’ Stirnrunzeln vertiefte sich, aber ihre Mutter lachte nur. Sie war gereizt wie eine Wildkatze, die aus Versehen in eine Bärenhöhle geraten war. Der Ausdruck von Anspannung auf ihrem Gesicht war unübersehbar, und ihre Hand öffnete und schloss sich immer wieder um den mit weichem Leder umwickelten Schwertgriff.
Auch Arianrhod fasste ihre Waffe fester. Nach allem, was ihre Mutter sie gelehrt, und nach all den Nächten, in denen sie mit Stöcken und Holzschwertern gekämpft hatten, konnte sie mit dieser Waffe vermutlich besser umgehen als die allermeisten der Männer, die dort heranstürmten. Aber sie hatte noch nie wirklich damit gekämpft, und natürlich war ihr auch klar, dass sie es an Kraft und Rücksichtslosigkeit nicht mit einem einzigen von ihnen aufnehmen konnte.
Beunruhigt sah sie nach links. Dragosz’ Krieger näherten sich rasch, und vielleicht schafften sie es ja. Wahrscheinlich würden sie sich nur wenige Augenblicke gegen diese Übermacht halten können. Dass es tatsächlich eine Übermacht war, selbst jetzt noch - ihre Zahl musste die der Fremden nahezu um das Doppelte übersteigen -, ignorierte sie vorsichtshalber. Das Schicksal hatte ein Wunder geschehen lassen, um sie zu retten, und vielleicht geschah ja auch noch ein zweites.
Es geschah.
Der Vormarsch der Krieger aus Goseg verlor plötzlich an Schwung. Die Männer stürmten nicht mehr so schnell heran, wie sie konnten, sondern wurden langsamer und schienen zu zögern. Immer mehr von ihnen blickten nach rechts, wo sich Dragosz’ Männer näherten, und immer mehr fielen von einem rasenden Laufschritt in einen raschen Trab, gingen schließlich nur noch und blieben dann ganz stehen. Vielleicht dreißig oder vierzig Schritte, bevor sie wirklich heran waren, hielten die Männer an, die weit auseinander gezogene Kette begann sich zusammenzuziehen und bildete nun einen dicht geschlossenen Pulk, aber den Vorteil, den diese Formation ihnen vielleicht verschaffte, hatte die verlorene Zeit längst wieder aufgezehrt. Dragosz’ Männer kamen jetzt immer rascher näher. Wenn die Krieger nun angriffen, dann hatten sie es nicht mit zwei berittenen Kriegern und einem Kind tun, sondern mit zwei Dutzend gut bewaffneten und zu allem entschlossenen Gegnern.
»Was tun sie?«, murmelte Lea. »Warum greifen sie nicht an?«
»Sie wagen es nicht«, antwortete Dragosz. In seiner Stimme war ein schwacher Unterton von Hoffnung, den er mühsam zurückzuhalten versuchte, ohne dass es ihm gelang.
»Aber sie sind in der Überzahl«, antwortete Lea. »Sie sind fast doppelt so viele wie wir!«
»Vielleicht haben sie Angst, dass noch mehr von uns irgendwo verborgen sind«, murmelte Dragosz. Mittlerweile war der beinahe triumphierende Ton in seiner Stimme lauter geworden. Die ersten seiner Krieger waren noch ein Dutzend Schritte entfernt und damit praktisch schon da. Er schüttelte den Kopf. »Und selbst, wenn es nicht so wäre, sie wurden losgeschickt, um ein entflohenes Kind einzufangen. Nicht, um in eine Schlacht zu ziehen.«
Vielleicht hatte Dragosz ja Recht, dachte Arianrhod. Diese Männer waren nicht darauf vorbereitet gewesen, auf ein ganzes Heer zu stoßen, sondern allenfalls auf sie, ihre Mutter und Dragosz, und vielleicht noch auf einen ehemaligen Fischer, einen blinden Schmied und einen einarmigen Jäger. Vielleicht erinnerten sie sich auch noch zu gut an das, was am Morgen geschehen war, um sich unvorbereitet auf einen Gegner zu werfen, über den sie nichts wussten, der ihnen aber schon einmal so schreckliche Verluste zugefügt hatte.
Vielleicht war es so. Es musste so sein.
Und es war so.
Die Männer kamen nicht näher. Während sich Dragosz’ Krieger rings um sie herum zu einem dicht gestaffelten, lebenden Schutzwall formierten, begannen die Krieger heftig gestikulierend miteinander zu reden, vielleicht auch zu streiten. Aber niemand hob eine Waffe. Niemand machte auch nur einen Schritt in ihre Richtung.
»Da ist Jamu«, sagte Lea plötzlich. Arianrhod strengte die Augen an und gewahrte den schwarzhaarigen Krieger tatsächlich zwischen all den anderen. Er hielt einen Speer in der rechten und ein Schwert in der linken Hand und deutete aufgeregt in ihre Richtung.
»Ich habe immer gesagt, der Kerl ist ein Feigling«, sagte Dragosz verächtlich.
Lea warf ihm einen seltsamen Blick zu. »Dann hoffe ich, dass du Recht hast. Wenn sie uns angreifen, haben wir verloren.«
»Das werden sie nicht«, antwortete Dragosz überzeugt. Er schüttelte grimmig den Kopf. »Und wenn doch, sollen sie es versuchen. Ich habe keine Angst vor ihnen.«