Arianrhod war einen Moment lang verwirrt. Von der hörbaren Erleichterung in Dragosz’ Stimme war nichts mehr übrig. Ganz im Gegenteil klang er beinahe enttäuscht. Konnte es sein, dass er sich auf den Kampf gefreut hatte?
Doch wenn es so war, dann wurde auch diese Freude enttäuscht. Die Männer debattierten noch eine Zeit lang heftig miteinander. Ihre aufgeregten, wütenden Stimmen drangen bis zu ihnen hinüber, doch schließlich drehten sich die ersten um und gingen.
Lea atmete erleichtert auf. »Sie ziehen tatsächlich ab. Du hattest Recht, Dragosz. Sie wagen es nicht, uns anzugreifen.«
»Ich sagte doch, sie sind Feiglinge«, sagte Dragosz abfällig.
»Vielleicht sind sie auch nur besonnen«, widersprach Lea. »Sie sind weit weg von Goseg. Sie können nicht auf Verstärkung hoffen, und sie könnten auch ihre Verletzten nicht behandeln. Und du hast Recht - sie können nicht wissen, ob nicht noch mehr von deinen Männern in der Nähe sind.« Sie lachte leise. »Schade, dass ich Sarns Gesicht nicht sehen kann, wenn ihm klar wird, dass der Unsinn, den er über die Barbaren aus dem Osten erzählt hat, letztendlich doch seine Wirkung tut.«
Dragosz sah sie einem Herzschlag lang verwirrt an, aber dann lachte er. »Irgendwann werde ich zu ihm gehen und es eben selbst erzählen.«
Er drehte Sturmwind auf der Stelle herum, ritt die paar Schritte zu einem seiner Männer - vermutlich deren Anführer - und stieg ab, und auch Lea drehte Nachtwind, sodass sie Arianrhod nun direkt ins Gesicht sehen konnte. Ein Ausdruck unendlicher Erleichterung und großen Glücks lag auf ihren Zügen. »Siehst du, Arri«, sagte sie, »manchmal lohnt es sich doch.«
Arianrhod ließ ihr Schwert sinken und setzte dazu an zu antworten, und in diesem Moment sah sie aus den Augenwinkeln, wie Jamu seinen Speer mit aller Kraft schleuderte.
»Pass auf!«, schrie sie.
Ihre Warnung kam zu spät. Lea zögerte nur einen winzigen Moment, den Bruchteil eines Lidschlages vielleicht, und doch zu lange. Endlich riss sie Nachtwind herum. Der Hengst stieg mit einem erschrockenen Wiehern auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderläufen aus, als er das tödliche Geschoss heranrasen sah, und Lea riss ihr Schwert in die Höhe und schlug nach dem Speer, der mit unglaublicher Präzision und ebenso unglaublicher Kraft auf sie zielte.
Das Zauberschwert zerbrach.
Die Klinge brach dicht über dem Griff ab und flog davon, und der Speer, von der gewaltigen Kraft des Hiebes abgelenkt, traf nicht sie, sondern bohrte sich tief in Nachtwinds Brust. Der Hengst kreischte, trat noch einmal hilflos mit den Vorderläufen in die Luft und brach dann wie vom Blitz gefällt zusammen.
Das Geräusch, mit dem er Lea unter sich begrub, sollte Arianrhod nie wieder völlig vergessen.
Dragosz schrie gellend Leas Namen und war mit zwei, drei gewaltigen Sätzen bei ihr, und auch Rahn kam in die Höhe, erstarrte dann jedoch mitten in der Bewegung. Arianrhod aber stand wie gelähmt da. Sie begriff nicht, was geschehen war. Ein Teil von ihr wusste es sehr wohl, derselbe Teil, der ihr die ganze Zeit über zugeflüstert hatte, dass das Leben nicht so gnädig war, dass alles, was bisher geschehen war, nur dem Zweck gedient hatte, sie am Ende umso härter zu treffen, aber der weitaus größte Teil konnte nur dastehen und das gestürzte Pferd anstarren. Wie bei etwas, an dem sie nicht wirklich beteiligt war, nahm sie wahr, wie ringsum für einen Moment fast Panik aufkam. Etliche von Dragosz’ Männern hoben ihre Speere, und zwei oder drei schleuderten sie sogar, warfen aber allesamt zu kurz, und auch die Krieger auf der anderen Seite rotteten sich rasch wieder dichter zusammen, machten jedoch auch ihrerseits keinen Versuch, den begonnenen Angriff fortzusetzen.
Irgendwann überwand Arianrhod die Lähmung, die Besitz von ihr ergriffen hatte, und ging mit langsamen Schritten um den gestürzten Hengst herum.
Dragosz kniete vor ihr, sein gekrümmter Rücken verwehrte ihr den Blick auf ihre Mutter, aber sie musste sie nicht sehen, um zu wissen, was geschehen war. Sie hatte das Geräusch gehört, einen schrecklichen, knirschenden Laut, als würde ein großer Ast verdreht und zerbrochen.
Dieses schreckliche Geräusch.
Ihre Schritte wurden langsamer, und ihre Hände begannen immer heftiger zu zittern. Sie wollte nicht sehen, welcher Anblick sich ihr bot.
Aber sie ging weiter.
»Helft mir!«, befahl Dragosz fast schreiend. Keiner seiner Männer rührte sich, und er wiederholte die Aufforderung in seiner Muttersprache. Drei oder vier Krieger eilten herbei, und Dragosz machte ihnen mit heftigen Gesten klar, dass sie den gestürzten Hengst hochheben oder zumindest zur Seite schieben sollten, doch bevor auch nur einer von ihnen damit anfangen konnte, hob Lea die Hand und schüttelte mühsam den Kopf.
Arianrhod, die stocksteif neben und halb hinter Dragosz stand, wunderte sich ein bisschen, wie friedlich und entspannt ihre Mutter plötzlich aussah. Und wie wenig sie empfand. Lea starb, hier, jetzt, und vor ihren Augen, und sie sollte verzweifelt und hysterisch oder doch wenigstens traurig sein, aber sie spürte... nichts.
»Nein«, sagte ihre Mutter mit leiser, fast schon brechender Stimme. Ihre Zähne, die bisher stets so weiß wie frisch gefallener Schnee gewesen waren, schimmerten jetzt rot, und ein dünner Blutfaden rann aus ihrem Mundwinkel und den Hals hinab.
»Aber wir müssen das Pferd wegbekommen«, protestierte Dragosz. »Wir müssen dich...«
»Nein«, sagte Lea noch einmal. »Lass ihn... liegen. Bitte.«
Dragosz wirkte hilflos. Verstört hob er die Hände, setzte dazu an, etwas zu sagen, und brachte dann nur ein stummes Kopfschütteln zu Stande. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Aber... aber wir können doch nicht...«
»Es ist gut«, unterbrach ihn Lea. Plötzlich war aller Schmerz aus ihrer Stimme gewichen, aber sie war zugleich auch leiser geworden; fast nur noch ein Flüstern, das selbst Arianrhod kaum noch hörte, obwohl sie gerade einen Schritt entfernt war. Leas Blick begann sich zu verschleiern.
»Lasst mich einfach... hier liegen«, bat sie. »Zusammen mit Nachtwind. Er... hätte es so gewollt. Und ich auch.«
Dragosz wollte etwas sagen, aber Lea unterbrach ihn mit einem matten Kopfschütteln. Ihr Blick flackerte, drohte sich im Nichts zu verlieren und tastete dann umher, bis er Arianrhod gefunden hatte.
»Arianrhod«, flüsterte sie. »Bitte lass mich... mit Arianrhod...«
Dragosz starrte sie an. Er rang sichtlich um seine Fassung, und er verlor diesen Kampf. Nach einer Weile, und nachdem Tränen sein Gesicht benetzt hatten, stand er auf und trat einen Schritt zurück. Ganz plötzlich war sein Gesicht wie Stein.
Zitternd ließ sich Arianrhod neben ihrer Mutter auf die Knie sinken. Sie empfand immer noch nichts, nicht die geringste Spur von Trauer, keinen Schmerz, keinen Zorn, aber die Welt begann auf sonderbare Weise rings um sie herum zu verblassen, bis sie in einem Meer aus grauem Nebel dahinzutreiben schien, in dem nur noch das Gesicht ihrer sterbenden Mutter Wirklichkeit war.
»Arianrhod?«, murmelte Lea. Der Blick ihrer weit geöffneten, schon halb verschleierten Augen war direkt auf Arianrhods Gesicht gerichtet, aber sie schien sie nicht mehr zu erkennen. Sie starb, begriff Arianrhod. Jetzt. Warum empfand sie nichts? »Bist du... da?«
Arianrhod konnte nicht antworten, denn ihre Kehle war einfach zugeschnürt. Sie konnte auch nicht atmen. Schweigend griff sie nach der Hand ihrer Mutter und hielt sie fest.
»Arianrhod«, flüsterte Lea. Die Andeutung eines Lächelns erschien auf ihren Zügen und verschwand wieder. Ihre Haut war so kalt wie Eis. »Du... du musst mir etwas... versprechen.«
Arianrhod konnte immer noch nicht antworten, aber sie griff fester nach den Fingern ihrer Mutter, und irgendwie brachte Lea noch einmal die Kraft auf, die Berührung zu erwidern. Schmerz erschien jetzt auf ihrem Gesicht, aber er wirkte seltsam unwirklich, als befände sie sich schon halb in einer Welt, in der er keine Bedeutung mehr hatte.