»Geh mit... Dragosz«, flüsterte sie. »Du musst mir versprechen... mit ihm... zu gehen. Heirate ihn und... und hüte unser Erbe.«
»Unser Erbe?« Die beiden Worte auszusprechen tat weh.
»Du bist... die Letzte... unseres Volkes«, flüsterte Lea. Das hellrote Rinnsal, das aus ihrem Mundwinkel lief, wurde breiter. »Es darf... nicht... untergehen. Versprich mir das.«
»Ich verspreche es«, antwortete Arianrhod. Sie fühlte immer noch nichts. Selbst die Tränen, die jetzt über ihr Gesicht liefen, schienen irgendwie nicht zu ihr zu gehören. Was geschah mit ihr?
»Das... das Schwert«, hauchte Lea, und Arianrhod spürte, dass sie es nun mit ihren unwiderruflich letzten Atemzügen tat. Ihre freie Hand tastete suchend umher, und Arianrhod beugte sich zur Seite und drückte ihr sanft den abgebrochenen Schwertgriff mit dem matt-grünen und goldenen Abbild des Himmels darin in die Finger. Lea hatte nicht mehr die Kraft, die Hand darum zu schließen.
»Was immer auch geschieht«, flüsterte sie. »Du musst sie... bewahren. Hüte... die... Himmelsscheibe.«
Und damit starb sie.
Ihre Augen blieben offen. Nichts an ihren bleichen Zügen änderte sich, nur ihre Finger öffneten sich plötzlich wieder und ließen den Schwertgriff los, aber Arianrhod konnte spüren, wie sich etwas von ihr löste, noch einen Augenblick wie ein unsichtbarer Hauch in der Luft schwebte und sie ein allerletztes Mal berührte, eine körperlose, sanfte Hand, die sich zum Abschied noch einmal auf ihr Herz legte und es mit einer Wärme erfüllte, die sie nie, nie wieder im Leben wirklich verspüren sollte, und dann einfach verging.
Und dann war der Schmerz da, auf den sie bisher vergeblich gewartet hatte, ohne eine Warnung, von einem Atemzug zum anderen und mit so unwiderstehlicher Wucht, dass Arianrhod schreiend über ihrer Mutter zusammenbrach.
Es war dunkel geworden. Nachdem die Sonne untergegangen war, hatten Dragosz’ Krieger eine Anzahl großer Feuer entzündet, die flackernde Inseln aus rotem und gelbem Licht in die Schwärze stanzten, die sich über der Welt ausgebreitet hatte, und zumindest in ihrer unmittelbaren Nähe die Kälte zurückhielten, die mit Einbruch der Nacht noch viel schlimmer geworden war. Aber es waren nur die äußere Kälte, und die äußere Dunkelheit, denen sie Einhalt zu gebieten vermochten. Die Schwärze, die von Arianrhods Seele Besitz ergriffen hatte, vermochten sie nicht aufzuhellen; so wenig wie sie das Gefühl der Kälte lindern konnten, die aus ihrem Inneren emporstieg und schlimmer war als das, was die Nacht mit sich brachte, und vielleicht nie wieder vergehen würde.
Arianrhod hörte das Geräusch leiser Schritte hinter sich, und sie erkannte an ihrem Rhythmus, dass es Dragosz war, der sich ihr näherte. Sie blickte nicht auf, straffte aber ein wenig die Schultern und versuchte, sich in eine etwas aufrechtere Haltung zu setzen, den sie wollte nicht, dass er sah, wie niedergeschlagen und mut- und kraftlos sie dasaß. Sie zitterte am ganzen Leib, aber dagegen konnte sie nichts tun, denn es war tatsächlich nur die eisige Nachtluft, die dafür verantwortlich war. Arianrhods Rücken fühlte sich an, als wäre er zu Eis erstarrt, während ihr Gesicht, ihre nackten Unterarme und Hände, die sie dem Feuer zuwandte, zu glühen schienen.
Sie konnte hören, wie Dragosz zwei oder drei Schritte hinter ihr stehen blieb und sich unbehaglich auf der Stelle bewegte. Vielleicht wartete er darauf, dass sie etwas sagte, vielleicht suchte er auch selbst nach Worten. Arianrhod hatte nicht die Kraft, sich zu ihm umzudrehen oder ihm gar ins Gesicht zu sehen. Es hatte lange gedauert, bis sie aufgehört hatte, sich weinend an ihre Mutter zu klammern und hysterisch nach jedem zu schlagen, zu treten oder auch zu beißen, der versucht hatte, sie auch nur zu berühren. Irgendwann waren ihre Tränen versiegt, aber der Schmerz war nicht vergangen, sondern nur zu einer anderen, vielleicht stilleren, aber nicht weniger schlimmen Art von Leid geworden, eine blutende Wunde auf ihrer Seele, die nie wieder heilen würde. Trotzdem war ihr die Erinnerung an jene Augenblicke peinlich. Sie schämte sich nicht ihrer Tränen, aber sie hatte nicht gewollt, dass Dragosz sie so sah.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er nach einer Weile.
Arianrhod reagierte auch darauf nicht, aber ihre Hände begannen mit dem abgebrochenen Schwertgriff zu spielen, den sie, seit sie hier am Feuer saß, abwechselnd in ihren Schoß gelegt und dann wieder wie einen kostbaren Schatz an die Brust gedrückt hatte. Hüte die Himmelsscheibe.
Als Dragosz klar wurde, dass er keine Antwort bekommen würde, ging er halb um das Feuer herum und ließ sich auf der anderen Seite in die Hocke sinken. Er streckte die Finger über den Flammen aus, so dicht, dass sie seine Hände schon fast berührten, und starrte für endlose Momente aus blicklosen Augen in die prasselnde Glut. Sein Gesicht, das von den roten Flammen erhellt und von Schatten mit dem Trugbild von Bewegung überzogen wurde, die es nicht gab, war vollkommen ausdruckslos, aber Arianrhod sah auch die verschmierten Spuren, die die Tränen in den Schmutz auf seiner Haut gemalt hatten. Auch seine Hände waren schmutzig, und trotz der Kälte glänzte seine Stirn vor Schweiß. Obwohl seine Krieger danach gegiert hatten, die Männer aus Goseg zu verfolgen und für den feigen Mord bezahlen zu lassen, hatte er es ihnen verboten und gut die Hälfte von ihnen dazu eingeteilt, rings um das eilig errichtete Lager herum Wache zu halten. Die anderen hatten Steine und Erdreich herbeigeschleppt, so weit sie nicht damit beschäftigt gewesen waren, die Feuer zu entfachen, mit denen er ganz allein ein flaches Hügelgrab über Lea und Nachtwind errichtet hatte.
Eine Arbeit für zehn Männer und eine halbe Nacht, die er ganz allein bei Einbruch der Dunkelheit vollbracht hatte. Er hatte vorgeschlagen, Lea auf die Art seines Volkes zu bestatten, die darin bestand, den Körper zu verbrennen, damit Rauch und Flammen die Seele hinauf zu den Göttern trugen, und es war das einzige Mal gewesen, dass Arianrhod das Schweigen, in das sie verfallen war, nachdem die Tränen endlich versiegt waren, gebrochen hatte. Sie hatte darauf bestanden, dass der letzte Wunsch ihrer Mutter erfüllt und sie zusammen mit ihrem Hengst genau dort beigesetzt wurde, wo sie lag. Sie hatte gespürt, wie schwer es Dragosz gefallen war, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, aber er hatte sich nicht widersetzt.
»Das war eine dumme Frage, ich weiß«, knüpfte Dragosz nach einer langen Zeit an das unterbrochene, einseitige Gespräch an. Er zog die Hände zurück, als spüre er die Hitze der Flammen erst jetzt, und versuchte in ihrem Gesicht zu lesen. Was er darin erkannte, schien ihn traurig zu stimmen. »Es wird nie wieder alles in Ordnung sein, nicht wahr?«
Arianrhod spürte, wie sich ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Fast zu ihrer eigenen Verwunderung fühlte sie, wie sie den Kopf schüttelte und zugleich den zerbrochenen Stumpf des Schwertes wieder fest an die Brust drückte. Der abgebrochene Rest der Klinge lag neben ihr im Gras, und manchmal blitzten in den silberfarbenen Metall rote und gelbe Reflexionen der Flammen auf, als wäre es von einem geheimnisvollen, inneren Feuer erfüllt.
»Wir müssen bald weiter«, sagte Dragosz. »Ich würde gern die Nacht über hier bleiben und dir die Zeit geben, in Ruhe Abschied von deiner Mutter zu nehmen, aber das Risiko ist zu groß.« Obwohl sie mit keiner Miene darauf reagiert hatte, schüttelte er den Kopf, um seine Worte noch zu bekräftigen. »Jamu und seine Krieger könnten zurückkommen.«
»Ich weiß«, sagte Arianrhod.
Dragosz wirkte für einen Moment überrascht, als hätte er niemals damit gerechnet, dass sie überhaupt antwortete. Sie spürte auch, wie schwer es ihm fiel, weiter zu sprechen und die Frage zu stellen, derentwegen er überhaupt hierher gekommen war. »Hast du dich entschieden, was du jetzt tun willst, kleines Mädchen?«, fragte er.