Arianrhod nahm ihm diese Anrede nicht übel, denn sie spürte, dass nichts Abfälliges oder Spöttisches darin lag, sondern nur eine Art von Zuneigung, über deren wirkliche Natur er sich wohl selbst nicht im Klaren war. Wie sollte sie sich entscheiden? Sie hatte ihrer Mutter ein Versprechen gegeben.
Als sie auch darauf nicht antwortete, fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und fuhr fort: »Wir gehen wieder zurück in die Berge, wo wir den Winter verbringen werden. Willst du mit uns kommen?« Arianrhod empfand ein neuerliches, warmes Gefühl von Dankbarkeit, dass er ihr diese Wahl ließ. Er hätte es nicht nötig gehabt. Für jeden anderen Mann, den sie kannte - außer vielleicht für Rahn -, wäre es nicht einmal eine Frage gewesen. So wenig, wie es für sie eine war.
Dennoch antwortete sie auch jetzt nicht gleich darauf, sondern nahm den Schwertgriff nun in beide Hände, blickte für eine kleine Ewigkeit wortlos auf die grüngoldene Scheibe in seinem Knauf und machte dann eine Kopfbewegung auf Rahn und die beiden anderen, die ein Stück entfernt an einem anderen Feuer saßen und in ein dumpfes Brüten verfallen waren, das kaum weniger schwer lastete als das ihre. »Und sie?«
Dragosz schüttelte kaum sichtbar den Kopf. »Du weißt, dass das nicht geht«, sagte er traurig.
»Und wenn ich es will?«, fragte Arianrhod. »Wenn es der letzte Wunsch meiner Mutter gewesen wäre?«
»Selbst wenn ich es wollte, wäre es unmöglich«, antwortete Dragosz sanft. »Meine Männer würden es nicht zulassen.«
»Ich dachte, du wärst der Herrscher deines Volkes.«
»Das ist wahr«, antwortete Dragosz, schüttelte zugleich aber auch den Kopf. »Ich bin sein Führer. Aber ich bin nicht die Art von Herrscher wie Sarn, oder wie Nor es war. Unser Volk wählt einen Anführer, von dem es glaubt, dass er der Beste für diese Aufgabe ist. Ich kann nicht einfach befehlen und mich über seinen Willen hinwegsetzen.«
»Weil dein Volk niemanden in seinen Reihen dulden würde, der zu nichts nütze ist«, sagte sie.
Dragosz’ Blick wurde noch eine Spur trauriger. »Ich hätte es anders ausgedrückt, aber... du hast Recht. So wenig wie deines.«
Sie hatte keine andere Antwort erwartet. Wieder verging Zeit, in der sie nur scheinbar ins Leere starrte. Dann fragte sie: »Und wenn ich dafür bezahle?«
Dragosz sah sie fragend an. »Wie meinst du das?«
»Ich weiß alles, was meine Mutter wusste«, antwortete Arianrhod. »Vielleicht nicht wirklich alles, aber doch das meiste. Sie hat mich viel gelehrt, und was sie mir nicht beigebracht hat, werde ich noch lernen. Du weißt, dass das so ist. Ich kann für dein Volk dasselbe tun, was meine Mutter für Sarns Leute getan hat. Mehr, denn dein Volk ist nicht mein Feind.«
Dragosz schien einen Moment lang ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken, aber dann schüttelte er abermals und noch trauriger den Kopf. »Selbst dann nicht«, sagte er bedauernd. »Ich weiß, dass das, was du mir anbietest, hundertmal mehr wert ist als das Essen für die beiden Männer, aber mein Volk würde es nicht verstehen. Es tut mir Leid, Arianrhod.«
Sie war nicht überrascht, und auch nicht enttäuscht. Sie lächelte nur matt, ergriff die abgebrochene Klinge des Schwertes mit der anderen Hand und stand auf. Langsam drehte sie sich um und ging zu dem Feuer hinüber, an dem Rahn und die beiden anderen saßen. Sie konnte hören, wie Dragosz noch einen Moment zögerte und ihr schließlich folgte, dann aber abermals stehen blieb, kurz, bevor sie die Feuerstelle erreichte.
Rahn und der einarmige Jäger sahen auf, als sie ihre Schritte hörten. Ein plötzlicher Ausdruck von Betroffenheit erschien auf Rahns Gesicht, und er setzte dazu an, etwas zu sagen, fand aber dann nicht die richtigen Worte und schluckte nur ein paar Mal hart. Krons Gesicht war einfach nur leer, aber unter dieser vermeintlichen Leere spürte Arianrhod eine Betroffenheit, die sie überraschte. Sie war bisher der Meinung gewesen, ihre Mutter wäre dem Jäger mehr oder weniger gleichgültig gewesen, doch vielleicht gehörte auch das zu den - gar zu vielen - Dingen, in denen sie sich getäuscht hatte. Der Schmerz des Jägers war echt.
Arianrhod schenkte ihm ein kurzes, aber sehr warmes Lächeln und umrundete das Feuer, bis sie den Schmied erreicht hatte. Achk war so nahe ans Feuer herangerutscht, wie er es gerade noch wagte, ohne sich zu verbrennen, und obwohl er die Hände über die Flammen ausgestreckt und den Oberkörper und das Gesicht weit vorgebeugt hatte, um auch nur jedes bisschen kostbare Wärme aufzufangen, zitterte er vor Kälte. Aber er musste Arianrhods Schritte gehört haben, denn plötzlich hob er den Kopf und suchte mit seinen leeren Augen die ungefähre Richtung ab, aus der sie sich näherte.
»Wer... wer ist da?«, fragte er.
Statt zu antworten, ließ sich Arianrhod vor ihm in die Hocke sinken, griff nach seinem linken Arm und drückte ihm den Schwertgriff in die Hand. Achk fuhr heftig zusammen.
»Was...«, stammelte er. »Wer... wer ist da? Arianrhod?«
Sie sagte nichts, sondern griff nun auch nach seinem anderen Arm und drückte ihm die zerbrochene Klinge in die Rechte. »Das Schwert meiner Mutter, Achk«, sagte sie. »Es ist zerbrochen. Kannst du es mit Kron neu schmieden, wenn ich euch sage, wie?«
Achks erloschene Augen wurden groß. Arianrhod bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich Kron neben ihr kerzengerade aufrichtete, und sie hörte auch, dass Dragosz hinter ihr ungläubig die Luft zwischen den Zähnen einsog, aber sie behielt Achks Gesicht starr im Auge. Die Finger des blinden Schmieds strichen über das silberfarbene Metall, tasteten über die Bruchkanten und den goldgrünen Knauf und schließlich die gefährliche Schneide, und sein erloschener Blick irrte immer wilder zwischen Arianrhods Gesicht und dem zerbrochenen Schwert hin und her, als wolle er mit verzweifelter Kraft das Augenlicht zurückzwingen, das er längst nicht mehr hatte.
Und schließlich nickte er. »Ja.«
Ein warmes Gefühl von Dankbarkeit durchströmte Arianrhod. Sie lächelte Achk noch einmal zu, obwohl er es nicht sehen konnte, dann stand sie auf und drehte sich zu Dragosz um. Der fremde Krieger war in vier oder fünf Schritten Abstand stehen geblieben, aber ein einziger Blick in sein Gesicht machte Arianrhod klar, dass er jedes Wort verstanden hatte.
»Du hast es gehört«, sagte sie.
Dragosz schwieg. Sein Gesicht war wie Stein, aber Arianrhod sah ihm trotzdem an, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Zeit verging, unendlich viel Zeit, wie es ihr vorkam. Dann, zögernd und wie gegen einen körperlichen Widerstand ankämpfend, nickte er. »Also gut«, sagte er. »So soll es sein.«
Arianrhod sah ihn noch einen allerletzten Augenblick lang prüfend an, aber da war kein Anzeichen von Unehrlichkeit oder gar Betrug in seinem Blick. Sie war nicht einmal sicher, dass er sein Wort würde halten können; aber er würde es versuchen, und das war vielleicht schon mehr, als sie von ihm verlangen konnte.
Und alles andere?, dachte sie. Was würde die Zukunft bringen? Sie wandte den Blick in die Richtung, wo sie Goseg vermutete, verborgen hinter den Schleiern der Nacht und Entfernung, und sie wartete darauf, dass sie Zorn verspürte, Hass oder zumindest Groll, aber nichts von alledem wollte sich einstellen. Goseg war dort irgendwo, eine schwärende Wunde im Herzen des Landes, wie ein Hort des Bösen, der verdorben war und jeden verdarb, der sich zu weit mit ihm einließ, und möglicherweise würde sie eines Tages dorthin zurückkehren, aber nicht mit Feuer und Schwert, nicht, um Leid und Unrecht durch noch mehr Leid und Unrecht zu tilgen. Sie empfand keinen Rachedurst, und auch das war etwas, was ihre Mutter irgendwann, vor sehr langer Zeit, einmal zu ihr gesagt hatte und was sie wie so vieles erst jetzt wirklich verstand. Rache machte nichts wieder gut, sondern alles nur noch viel schlimmer.
Arianrhod drehte sich in die andere Richtung, dorthin, wo das Hügelgrab ihrer Mutter lag, ebenso verborgen in der Schwärze wie Goseg, aber näher, vertrauter und wärmer. Der Schmerz in ihrer Brust war immer noch nicht verstummt, und ganz würde er das vielleicht nie tun, aber nun auf eine schwer greifbare Art dennoch versöhnlicher. Vielleicht, weil sie spürte, dass ihre Mutter zwar tot war, trotzdem aber auf eine gewisse Weise immer bei ihr sein würde.