»Ich weiß«, sagte Arri.
Einen Moment lang sah ihre Mutter sie erstaunt an, aber dann nickte sie. »Dein Traum«, sagte sie.
»Es ist kein Traum, habe ich Recht?«, flüsterte Arri.
»Nein«, gestand Lea. »Es ist kein Traum. Es war die letzte Nacht. Die Nacht, in der ich dich zum Hafen getragen habe. Alle sind dorthin gelaufen, ohne zu ahnen, dass auch dort nur der Tod auf sie wartete. Du warst noch zu klein, um zu laufen, und dein Vater und ich haben dich abwechselnd getragen, bis...« Ihre Stimme versagte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Welch einen unvorstellbaren Verlust musste sie erlitten haben, dachte Arri, dass der Schmerz sie selbst nach all den Jahren noch so überwältigte?
»Mein Vater?«, murmelte sie. Sie hasste sich selbst dafür, diese Frage zu stellen. Ihre Mutter hatte nie über ihren Vater geredet, und den Grund dafür sah Arri jetzt nass in ihren Augen schimmern, und dennoch konnte sie nicht anders, als fortzufahren: »Wer war er?«
Ein sonderbares Gefühl überkam Arri, als sie Lea so vor sich stehen sah. Niemals zuvor hatte sie ihre Mutter so ernst erlebt; zornig, ja, aufbrausend, übellaunig und nachtragend und oft genug auf eine verletzende Art vorwurfsvoll, die ihr das Gefühl gegeben hatte, ganz allein die Schuld an allem zu tragen, was ihrer Mutter in ihrem Leben widerfahren war. Aber niemals auf eine so... nein, es gelang ihr nicht, das Gefühl wirklich in Worte zu kleiden.
Sie antwortete auch nicht gleich. Ein einziges, schlichtes Ja, ein Kopfnicken, und ihre Mutter würde ihr die Antwort auf all die unzähligen, quälenden Fragen geben, die sie zeit ihres Lebens beschäftigt hatten, ohne dass sie es jemals gewagt hätte, auch nur eine einzige davon auszusprechen. Sie würde endlich erfahren, wer sie war, wer ihre Mutter war und woher sie kam. Und dennoch zögerte sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich das Recht hatte, diese Fragen zu stellen. Noch vor wenigen Tagen hätte sie es getan, ohne auch nur einen Herzschlag lang zu zögern, aber nun blickte sie in die Augen ihrer Mutter und las einen Schmerz darin, der nichts mit den Tränen zu tun hatte, die ihr noch immer über das Gesicht liefen, sondern der all die Jahre über in ihr geschwelt hatte, mühsam unterdrückt und verborgen, aber niemals besiegt. Sie fragte sich, ob sie das Recht hatte, in der alten Wunde zu rühren. »Erzähl mir von meinem Vater«, bat sie.
Wieder schwieg ihre Mutter eine ganze Weile, und auch danach antwortete sie nicht sofort, sondern wandte sich um und ging mit langsamen Schritten auf die kleine Felsgruppe in der Mitte der Lichtung zu. Arri folgte ihr. Das Echo der Trommelschläge wurde im Rhythmus des böigen Windes lauter und leiser, ohne jemals ganz abzubrechen, und auch ihr Herz schlug jetzt immer rascher, als wolle es sich dem Takt der Trommeln anpassen. Als sie die Quelle erreicht hatten, nahm ihre Mutter auf einem kniehohen Felsen Platz und schlug mit der flachen Hand auf den Stein neben sich.
Arri gehorchte und setzte sich neben sie, ihre Mutter aber schlang den Arm um sie und drückte sie an sich. Das war etwas, was Arri nicht gewohnt war und von dem sie bisher selbst angenommen hatte, dass sie es gar nicht mochte. Sie hatte schon früh begriffen, dass ihre Mutter die körperliche Nähe anderer Menschen scheute, selbst die Nähe ihrer eigenen Tochter, und daraus geschlossen, dass daran irgendetwas Unangenehmes sein musste. Umso überraschter war sie, als sie nach einem allerersten Moment des Widerstandes spürte, dass das genaue Gegenteil der Fall war. Außer den wirren Träumen, in denen die starken Arme ihrer Mutter sie vor dem Feuer beschützten, das vom Himmel fiel, hatte sie sich noch niemals so behütet und sicher gefühlt wie jetzt.
»Dein Vater war ein Seemann«, begann ihre Mutter mit leiser Stimme, in der noch immer ein sonderbar trauriger Unterton mitzuschwingen schien, aber nun kein Schmerz mehr und auch keine Bitterkeit. »Fast alle unsere Männer fuhren zur See. Wir lebten auf einer Insel, weißt du? Einer sehr großen Insel, aber trotzdem einer Insel, die an allen Seiten vom Meer umgeben war. Unsere Männer waren Händler und Entdecker, und ein paar von ihnen sicher auch insgeheim Abenteurer, auch wenn sie das niemals laut zugegeben hätten.« Sie lachte leise. »Ich glaube, dein Vater war auch ein Abenteurer. Er hat oft von seinen Reisen erzählt, und so, wie er es getan hat, hat es sich stets wie ein einziges großes Spiel angehört. Aber er war noch mehr. Von manchen seiner Fahrten hat er Narben zurückgebracht, ohne jemals zu erzählen, wie er sie sich zugezogen hat.«
»Dann war er ein großer Krieger?«, vermutete Arri.
Da sie den Kopf an die Schulter ihrer Mutter gelegt hatte, konnte sie den Ausdruck auf deren Gesicht nicht erkennen, aber sie spürte, wie sie heftig und fast erschrocken den Kopf schüttelte. »Nein. Wir waren kein Volk von Kriegern. Wir verstanden uns zu verteidigen, das ist wahr, und viele unserer Schiffe waren mächtig und gefürchtet, aber nur bei denen, die dumm genug waren, in ihnen eine vermeintlich leichte Beute zu sehen und sie anzugreifen. Unsere Flotte ist auf allen Meeren gefahren und hat Handel mit den Völkern hinter dem Horizont getrieben, aber wir waren keine Krieger.«
So, wie sie das sagte, musste diese Feststellung für sie von großer Bedeutung sein, auch wenn ihre Worte nicht recht zu dem zu passen schienen, was Arri erlebt und zum Teil mit eigenen Augen gesehen hatte. So hervorragend, wie ihre Mutter mit dem Schwert umzugehen verstand, konnte sie es ohne Mühe selbst mit dem stärksten Mann im Dorf, ja selbst mit Nors bestem Krieger aufnehmen. Sie schwieg und wartete darauf, dass ihre Mutter weitersprach, doch dann fiel ihr etwas ein, das noch viel weniger zu dem passen wollte, was sie erzählte.
»Du hast gesagt, wir wären die Letzten unseres Volkes«, sagte sie. »Nur du und ich. Aber wie kann das sein? Wenn unsere Schiffe alle Meere befahren haben, dann muss es doch noch andere Überlebende geben.«
Lea nickte. »Schiffe, die auf Reisen waren, die in fremden Häfen vor Anker lagen oder durch unbekannte Gefilde kreuzten, meinst du.« Wieder lachte sie, aber diesmal klang es eindeutig bitter, fast wie ein Schluchzen. »Ja. Wäre es an irgendeinem anderen Tag geschehen, dann hättest du Recht. Wenn es die Götter tatsächlich gibt, dann haben sie sich einen ganz besonders grausamen Tag für ihre Rache an uns ausgesucht.«
»Und wieso?«
Der Wind drehte, und das Dröhnen der Trommeln wurde wieder lauter; es kam Arri auch so vor, als würde der Klang plötzlich hektischer und bedrohlicher, wie um den Worten ihrer Mutter den gebührenden Nachdruck zu verleihen.
»Es war der Tag der Sommersonnenwende«, sagte Lea leise. »Unser größtes und heiligstes Fest, das unser ganzes Volk immer gemeinsam gefeiert hat. An diesem einen Tag im Jahr kehrten alle Schiffe in den Hafen zurück, kamen alle Reisenden nach Hause und unterbrachen alle Abenteurer das, was sie gerade taten, um das Fest mit ihrer Familie zu begehen.« Sie lächelte; Arri konnte es spüren, obwohl sie sie immer noch nicht ansah. »In der Nacht der Sommersonnenwende zwei Jahre zuvor wurdest du gezeugt, Arianrhod. Am Tag danach verließ das Schiff deines Vaters den Hafen und kam erst zurück, als du schon drei Mondwenden alt warst.«
»Dann hat er mich nur ein einziges Mal gesehen?« Der Gedanke bekümmerte Arri, obwohl sie selbst nicht genau sagen konnte, warum.
Ihre Mutter schüttelte jedoch den Kopf. »Zweimal. Sein Schiff kehrte am Abend des Sonnenwendfestes zurück, als allerletztes. Uns blieb nicht einmal mehr Zeit, ein letztes Mal...« Sie brach ab, schwieg einen Moment und setzte dann neu und in verändertem, um Sachlichkeit bemühtem Ton an. »Er hatte mir versprochen, nicht wieder zur See zu fahren, wenigstens in der nächsten Zeit. Ich war so glücklich an diesem Abend. Sein Schiff war schwer beladen mit Handelsgütern und Reichtümern aus fernen Ländern, und da war so viel, was er mir erzählen und zeigen wollte, doch wir dachten ja, wir hätten Zeit. Er wollte bleiben, um dabei zuzusehen, wie du heranwächst, aber dann...«
Ihre Stimme versagte endgültig, und diesmal war Arri nicht in der Lage, eine weitere Frage zu stellen. Auch ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Obwohl sie sich um Fassung bemühte, war der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter so stark, dass er etwas in ihr berührt und ausgelöst hatte, wie die Erinnerung an ein Gefühl, das sie noch nicht kannte. Erst jetzt begriff sie wirklich, was ihre Mutter vorhin gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass es nichts Schlimmeres gebe, als einem Traum nachzujagen, den man niemals erreichen könnte. Anders als ihre Mutter hatte sie selbst diese untergegangene Welt niemals gesehen, und dennoch empfand auch sie plötzlich ein Gefühl von Verlust, das fast unerträglich war. Mit einem Mal war sie fast froh, nach ihrem Vater gefragt zu haben und nicht nach ihrer Heimat.