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Ihre Mutter versuchte es noch einmal, aber auch jetzt reichte ihre Kraft nur für wenige Worte, bevor die Stimme ihr endgültig den Dienst versagte. »Alles ging so schnell. In dem einen Augenblick waren wir alle zusammen und glücklich. Wir haben gefeiert und Pläne geschmiedet, und im nächsten...«

Sie sprach nicht weiter, und sie musste es auch nicht, denn Arri wusste, was geschehen war. Ihr Traum war plötzlich wieder da, diesmal im Wachen, und vielleicht dadurch umso schlimmer. Sie wurde durch die Straßen einer brennenden, untergehenden Stadt getragen, eingekeilt in eine gewaltige, panisch flüchtende Menschenmenge, unter einem schwarzen Himmel, aus dem es Steine und Blitze und Feuer regnete, sie hörte die Schreie und spürte die Angst der Menschen, fühlte, wie sich die Straße unter ihr hob und senkte, und vernahm das furchtbare Geräusch, mit dem Häuser einstürzten und ihre Bewohner unter sich begruben... das Heulen des Sturms, der mit jedem Atemzug an Gewalt zunahm und dem sie trotzdem entgegenrannten, das dumpfe Donnern der Wellen, die sich an der Küste brachen und Menschen und gewaltige Schiffe gleichermaßen durch die Luft schleuderten und am Ufer zerbersten ließen.

Da sie nun wach war und nicht träumte, hätte sie sich gegen diese Bilder wehren können, doch so schrecklich sie auch waren, so wollte sie zum ersten Mal wirklich sehen, was da geschah. Es war kein Traum. Es waren ihre frühesten Erinnerungen, mit Sicherheit verfälscht durch die lange Zeit, die vergangen war, und dennoch unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. »Und wie...« Sie schluckte mühsam und musste sich mehrfach mit der Zunge über die Lippen fahren, bevor sie weiter sprechen konnte, »wie sind wir entkommen?«

»Dein Vater hat uns gerettet«, antwortete Lea. »Sein Schiff war das Letzte, das an diesem Abend in den Hafen eingelaufen war, und lag somit am weitesten draußen vor den Klippen, fast noch im Meer. Ein Teil der Besatzung war an Bord geblieben, und irgendwie... haben wir es geschafft, es zu erreichen. Wir konnten den Hafen verlassen, trotz des Sturms und der Wellen, die doppelt so hoch waren wie unser Mast. Aber dann...« Sie hob die Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was geschehen ist. Plötzlich war ich im Wasser und hielt dich in den Armen, und überall rings um uns herum waren Trümmer und ertrinkende Menschen. Ich war sicher, dass auch wir sterben würden. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist eine Planke, an die ich mich geklammert habe. Als der Sturm endlich vorüber war und es hell wurde, waren wir allein. Dein Vater war fort, und alle anderen auch, und da war nur das endlose Meer und dieses Stück Holz, an das ich mich klammern konnte. Irgendwann hat mich die Strömung ergriffen und mit sich getragen. Wir sind viele Tage auf dem Meer getrieben. Ich weiß nicht mehr, wie viele, aber ich weiß, dass wir fast verdurstet wären, obwohl rings um uns herum nichts als Wasser war. Ich wollte nicht mehr leben, damals. Meine Heimat war untergegangen, jeder einzelne Mensch, den ich kannte, und auch dein Vater war mir genommen worden. Wozu sollte ich noch leben? Alles, was ich wollte, war loslassen und ertrinken. Es ist ein schneller Tod, weißt du? Man sagt, er sei qualvoll, aber es geht schnell.«

»Aber du hast es nicht getan«, sagte Arri. »Warum?«

Sie wusste die Antwort, aber es erfüllte sie dennoch mit einem warmen Gefühl, die Worte zu hören.

»Deinetwegen. Du warst noch am Leben. Ich habe dich mit einem Fetzen meines Kleides auf der Planke festgebunden und dich tagsüber mit meinem Körper vor der Sonne geschützt. Ich war sicher, dass du sterben würdest. Du warst so klein und zart, und so schwach, und du hast die ganze Zeit keinen Laut von dir gegeben. Ich wollte sterben, aber wie konnte ich das, so lange du am Leben warst?«

»Du hast darauf gewartet, dass ich sterbe.« Die Worte erschreckten Arri, aber zugleich hörte sie selbst, dass kein Vorwurf oder gar Zorn darin war. Es war eine reine Feststellung.

Ihre Mutter nickte, und ihre Hand schloss sich fester um Arris Schulter. »Ja. Ich war dumm, damals. Der Schmerz war zu groß, um ihn zu ertragen, und ich glaubte, kein Recht zu haben, als Einzige weiter zu leben. Ich meinte es den anderen schuldig zu sein, ebenfalls zu sterben. Es brauchte ein kleines Kind, um mir zu zeigen, wie dumm das war. Du warst so tapfer, und du hast dich mit solcher Macht an dieses Leben geklammert, dass ich es nicht über mich gebracht habe, einfach aufzugeben. Irgendwann hat uns die Strömung an die Küste gespült, und barmherzige Menschen haben uns aus dem Wasser gezogen und gesund gepflegt.«

»Hier?«, fragte Arri.

Ihre Mutter lachte ganz leise. »Nein, nicht hier. Weit oben im Norden, an einem Ort, dessen Namen ich vergessen habe. Ich bin geblieben, bis ich wieder gesund und bei Kräften war, und dann habe ich mich auf die Suche nach anderen Überlebenden unseres Volkes gemacht. Doch ich habe keine gefunden, weil es keine gab.«

»Und warum sind wir dann hier geblieben?«, wollte Arri wissen. »Wenn dieser Ort so schlimm ist und Nor und Sarn und all die anderen auch, warum bist du dann nicht weiter gezogen?«

»Weiter?«, wiederholte ihre Mutter. Sie nahm den Arm von Arris Schulter und straffte sich, bevor sie den Kopf schüttelte.

»Wohin? Hier ist es so gut oder so schlecht wie überall. Es ist nicht die Schuld dieser Menschen. Sie sind nun einmal, wie sie sind. Die Menschen fürchten das, was sie nicht kennen, und je einfacher sie sind, desto größer ist ihre Angst vor dem Unbekannten. Ich wusste stets, dass wir nicht für immer hier bleiben können, aber für eine Weile war es nicht der schlechteste Ort, trotz Nor und aller anderen. Ich fürchte nur, dass diese Zeit jetzt zu Ende geht.«

Sie erhob sich und sah mit einem aufmunternden Lächeln auf Arri herab. »Keine Sorge«, sagte sie, »noch nicht heute und auch nicht morgen. Vielleicht tatsächlich, kurz bevor der erste Schnee fällt, aber wenn wir Glück haben, noch nicht einmal dann. Ich glaube, der Winter wird hart, und wenn er gleich mit voller Kraft einsetzt, wird sich für uns vielleicht alles noch einmal zum Guten wenden.«

»Ein harter Winter soll gut für uns sein?«, fragte Arri fassungslos. »Aber dann ist doch die Gefahr umso größer, dass wir verhungern, oder sogar erfrieren, wenn wir das Dorf verlassen müssen!«

»Das ist das Druckmittel, das Nor in der Hand zu haben glaubt«, sagte ihre Mutter ungerührt. »Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er sich in solch einem Punkt täuscht. Gosegs Einfluss sinkt im Winter mit jeder Handbreit Schnee, der auf das Land fällt. Wenn die Wege erst einmal unpassierbar sind, entscheidet nur noch Sarn über unser Schicksal. Auch wenn er uns aus tiefstem Herzen hasst, wird er sich doch hüten, uns unter Druck zu setzen. Je länger die dunkle Jahreszeit dauert, desto dringender wird das Dorf das brauchen, was ich ihm zu bieten habe, und die Menschen hier wissen das. Wir müssen nur irgendwie die Zeit des ersten Schnees überstehen.« Sie schnitt Arris nächste Frage, die ihr unwillkürlich über die Lippen kommen wollte, mit einer Geste ab, mit der sie sie zugleich auch aufforderte, ebenfalls aufzustehen. »Ich werde die Zeit bis dahin nutzen, um dir alles beizubringen, was ich weiß, aber für heute ist es genug. Lass uns ins Dorf zurückgehen und...«

Die Trommeln verstummten, und auch Lea brach erschrocken mitten im Wort ab und wandte mit einem Ruck den Kopf in die Richtung, aus der der Wind plötzlich nur noch Schweigen zu ihnen trug. Noch vor einem Atemzug hatte sich Arri nichts mehr gewünscht, als dass dieser quälende, unheimliche Trommelrhythmus endlich aufhörte. Aber die Stille, die sie nun umgab, war schlimmer. »Was mag passiert sein?«, fragte sie.