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Sie hörte ihre Mutter draußen rufen und beeilte sich, zu ihr zu kommen. Rahn starrte ihr finster entgegen, und selbstverständlich sorgte Arri dafür, dass ihm das schadenfrohe Funkeln in ihren Augen nicht entging, ebenso wie sie gerade eine Winzigkeit zu lange auf seine rechte Hand starrte, die er, auf der Hüfte aufgestützt, zur Faust geballt hatte. Rahns Augen wurden noch schmaler, aber er schluckte herunter, was ihm so sichtlich auf der Zunge lag, und bedeutete ihr mit einer groben Kopfbewegung, vor ihm herzugehen.

Ihre Mutter und Sarn hatten mittlerweile schon den halben Weg den Hang hinauf hinter sich gebracht, sodass Arri kräftig ausschreiten musste, um zu ihnen aufzuschließen. Trotzdem holte sie sie erst ein, als sie die Hütte des Schmieds schon passiert hatten und auf den Dorfplatz traten. Vollkommen anders, als zu dieser frühen Tageszeit üblich, war das lang gestreckte Oval von einem halben Dutzend Feuer fast taghell erleuchtet.

Ein sonderbarer, süßlicher Geruch lag in der Luft, bei dem nicht nur Arri überrascht die Stirn runzelte, sondern sich auch der Blick ihrer Mutter viel sagend noch weiter verfinsterte. Es war nicht nur der Geruch nach brennendem Holz und Torf, sondern auch nach etwas, das einen leicht schwindelig machte, wenn man es zu tief einatmete; ein Gemisch aus Kräutern und Blütenpollen, das Sarn gern benutzte, um sich in den Zustand zu versetzen, in dem er mit seinen Göttern sprechen konnte. Es hatte eine berauschende Wirkung, aber die Visionen, zu denen es führte, waren nicht immer angenehm, und von ihrer Mutter wusste sie, dass dieser Rauch auch nicht ungefährlich war. Sie selbst hatte ihn einmal - versehentlich - eingeatmet und noch Tage danach unter heftigen Kopfschmerzen gelitten.

Gewöhnlich verwendete Sarn diesen Rauch nur in seinem eigenen Haus, und auch das erst, nachdem er sich mit schier endlosem Gesang und Tanz bereits an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs gebracht hatte; jetzt aber schlug ihnen der süßliche Geruch aus jeder einzelnen Feuerstelle entgegen, die am Rand des Dorfplatzes brannte. Was hatte der Schamane vor?, fragte sich Arri verstört. Wollte er die ganze Sippe in einen Rauschzustand versetzen, und warum dann ausgerechnet hier und nicht im Steinkreis, wie es den alten Sitten gemäß schon sehr bald zum Jagd-Ernte-Fest der Fall sein würde?

Sie stellte diese Frage nicht laut, aber sie konnte ihrer Mutter ansehen, dass es ihr ebenso erging, und wäre es nach den Blicken gegangen, die sie Sarn zuwarf, hätte der greise Schamane das andere Ende des Platzes wohl nicht mehr lebend erreicht.

Das Haus, in dem Kron lebte, lag ein gutes Stück jenseits des Dorfplatzes und schon fast unten an der Zella, und es war größer als die meisten anderen, denn Kron hatte eine große Familie und nicht nur gleich zwei Frauen, sondern auch fast ein Dutzend Kinder, mit denen er sich die Hütte teilte. Vielen im Dorf erging es so. Arri wusste es natürlich nur aus den Erzählungen ihrer Mutter, doch es musste wohl so sein, dass früher sehr viele Kinder gleich nach der Geburt oder spätestens im ersten Winter, der darauf folgte, gestorben waren, und nur zu oft ihre Mütter gleich mit ihnen. Seit Lea und sie hier lebten, hatte sich das geändert. Es starben viel weniger Kinder, was die Frauen im Dorf aber nicht davon abhielt, sich (nach den Worten ihrer Mutter) weiter wie die Karnickel zu vermehren. Mit dem Ergebnis, dass sämtliche Häuser im Dorf allmählich zu klein wurden.

Vor dem des Jägers hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt; sicherlich nicht das gesamte Dorf, aber doch nahezu jeder erwachsene Mann und eine Menge Kinder und Halbwüchsige. Die Gesichter, die sich in ihre Richtung wandten, als die Menge auseinander wich, um dem Schamanen und ihnen Platz zu machen, wirkten zum größten Teil übernächtigt und grau, und der Ausdruck darauf war eher der von Erschöpfung als von Misstrauen oder Zorn. Manches Augenpaar wirkte trüb, was Arri auch gut verstehen konnte, als sie hinter ihrer Mutter durch den Eingang trat. Allein der Geruch, der ihr entgegenschlug, löste wiederum ein leises, aber sehr unangenehmes Schwindelgefühl hinter ihrer Stirn aus.

Im Innern der Hütte herrschte ein solches Gedränge, dass Arri Mühe hatte, Kron überhaupt zu entdecken. Der Jäger lag auf einem aus kostbaren Bären- und Wolfsfellen errichteten Bett, das nicht nur von seiner Familie, sondern auch von seinem Bruder und dessen gesamter Familie umlagert wurde. Der Geruch nach betäubenden Dämpfen war hier drinnen fast übermächtig, wurde aber auch von etwas anderem, Unangenehmerem durchdrungen. Es roch nach Krankheit und Fieber und Schmutz und nach dem Schweiß zu vieler Menschen, die zu lange hier drinnen gewesen waren. Wenn schon nicht vor ihnen, so wichen die Menschen doch zumindest vor dem Schamanen respektvoll zur Seite - so weit das in der Enge des Raumes möglich war, hieß das -, sodass es ihnen schließlich irgendwie gelang, sich an Krons Krankenlager heranzuschieben.

Wie Sarn gesagt hatte, war der Jäger wach. Er saß halb aufgerichtet auf seinem Lager. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und war sehr bleich, und er starrte ebenso vor Schmutz wie der von braun eingetrocknetem Blut durchtränkte Verband um seinen Armstumpf. Arri verzog angewidert das Gesicht, als ihr klar wurde, dass die Quelle des üblen Geruchs vor allem Kron selbst war, während sich der Blick ihrer Mutter schlagartig verdüsterte. Einen Moment lang starrte sie auf Kron herab, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und maß Arri mit einem Blick, unter dem das Mädchen sich am liebsten zwischen den Ritzen der Fußbodenbretter verkrochen hätte. Sie sagte nichts, aber das war auch nicht nötig - schließlich hatte sie Arri eindringlich eingeschärft, dem Schamanen ihre Kräuter und Salben nicht nur zu bringen, sondern sich auch mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass Krons Verband mindestens zweimal am Tag gewechselt und die Wunde gesäubert wurde. Die Wahrheit war, dass Arri nur ein einziges Mal den Mut aufgebracht hatte, Krons Hütte tatsächlich zu betreten.

»Hatte ich euch nicht aufgetragen, die Wunde unbedingt sauber zu halten?«, wandte sich Lea in scharfem Ton an Sarn. »Dieser Verband ist mindestens drei Tage alt. Wozu habt ihr nach meinen Salben verlangt, wenn ihr sie nicht benutzt?«

Sarns vor Erschöpfung gesprungene und vereiterte Lippen verzogen sich zu einem überheblichen Lächeln. »Wir brauchen deine Hexenkunst nicht, wie du siehst«, stieß er hervor. »Mardan hat unsere Opfer angenommen und meine Gebete erhört.«

Arri sah, dass ihre Mutter zu einer geharnischten Antwort ansetzte, es sich dann aber im letzten Moment doch anders überlegte und es bei einem ärgerlichen Blick und einem angedeuteten Achselzucken beließ, bevor sie neben Krons Lager auf die Knie herabsank und gebieterisch die Hand ausstreckte. Arri hatte es plötzlich sehr eilig, ihr den Beutel mit ihren Utensilien auszuhändigen, und ihre Mutter griff hinein und zog ein in getrocknete Blätter eingewickeltes Päckchen heraus, ohne auch nur hinzusehen. »Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät«, murmelte sie düster. »Haltet ihn fest. Diesen eingetrockneten Dreck von seinem Arm zu entfernen wird ihm bestimmt wehtun.«

Sie wollte die Hände nach Kron ausstrecken, aber der Jäger prallte heftig zurück und fuhr sie an: »Rühr mich nicht an! Wenn du mich noch einmal berührst, töte ich dich. Ich habe zwar nur noch eine Hand, aber die wird schon reichen, um dir das Genick zu brechen!«

Lea blinzelte. »Wie?«

»Rühr mich nicht an«, wiederholte Kron. Sein Blick flackerte irr. »Du hast mir den Arm abgeschnitten! Du... du hast mich zum Krüppel gemacht!«

»Ich habe dir das Leben gerettet, Kron«, antwortete Lea, nicht nur in erstaunlich ruhigem Ton, sondern auch mit einem nahezu mütterlichen, verständnisvollen Lächeln, das Arri fast noch mehr überraschte als die Ruhe in ihrer Stimme. »Hätte ich es nicht getan, dann wärst du gestorben.«