Arri rechnete fest damit, dass Sarn die Gelegenheit zu einer spitzen Bemerkung ergreifen würde, aber er schwieg. Nur das boshafte Funkeln in seinen Augen verstärkte sich.
»Und wenn!« Kron hustete qualvoll und brauchte eine ganze Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und Arri glaubte regelrecht zu sehen, wie seine Kräfte in dieser Zeit abnahmen. Seine Lider schienen so schwer zu werden, dass es ihm kaum noch gelang, sie offen zu halten. Irgendwann fand er die Kraft weiterzureden, aber seine Stimme war jetzt nur noch ein heiseres Flüstern. »Du hattest kein Recht. Ich kann nicht mehr für mich und meine Familie sorgen. Ich werde allen zur Last fallen. Du hättest mich sterben lassen sollen!«
»Es war meine Entscheidung, Kron.«
Nicht nur Arri hob überrascht den Kopf, auch ihre Mutter wandte sich verwirrt um. Sarns Augen aber wurden so schmal wie die einer angreifenden Schlange, und der Ausdruck darin ebenso tückisch. Arri hatte zwar schon beim Eintreten bemerkt, dass sich Grahl am Lager seines Bruders aufhielt, ihm aber keine weitere Beachtung geschenkt, und nach dem, was sie gerade erlebt hatte, hätte sie von ihm allerhöchstens weitere Vorwürfe erwartet. Zwar bedachte auch der jüngere Jäger ihre Mutter mit Blicken, die alles andere als freundlich oder auch nur dankbar waren, dennoch schüttelte er den Kopf, wartete, bis sein Bruder zu ihm hochsah, und sagte dann noch einmaclass="underline" »Es war nicht ihre Schuld, Kron. Es war meine Entscheidung - und die Sarns.«
Der Schamane keuchte hörbar, und auch alle anderen in der Hütte ließen ein erstauntes wie auch ungläubiges, erschrockenes Raunen und Murren hören. Grahl ignorierte jedoch sowohl den Stammesältesten als auch Krons Familie, kniete neben seinem Bruder nieder und griff behutsam nach seiner unverletzten Hand. »Wenn du jemanden dafür hassen willst, dann mich.«
»Aber... aber warum hast du mir das... angetan?«, murmelte Kron. »Ich bin dein Bruder.«
»Gerade weil du mein Bruder bist«, antwortete Grahl. »Die Wunde war brandig, und das weißt du auch. Du wärst gestorben, hätten wir den Arm nicht abgeschnitten. Ich werde für deine Familie sorgen, solange du es nicht kannst, das verspreche ich. Du wirst wieder gesund, und dann finden wir eine andere Arbeit für dich.«
»Eine Arbeit für einen Krüppel?« Kron versuchte zu lachen, brachte aber nur ein halb ersticktes Krächzen zustande. »Wie soll die aussehen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sein Bruder. »Aber das ist im Augenblick auch gleich. Du bist stark. Du wirst gesund. Das allein ist wichtig.« Er wandte sich mit einem fast scheuen Blick an Lea. »Du wirst ihm helfen?«
»Die Götter werden ihm helfen«, mischte sich Sarn ein. »Ich werde weiter zu ihnen beten, und wir müssen ihnen noch mehr Opfer bringen.«
Sowohl Grahl als auch Arris Mutter achteten nicht auf ihn. »Du hast Recht«, sagte Lea. »Dein Bruder ist stark. Er wird es schaffen. Wenn wir diesen Dreck da möglichst schnell von seinem Arm herunterkriegen, heißt das.« Sie deutete zornig auf Krons Armstumpf und verzog angeekelt das Gesicht. Grahl wirkte noch einen Moment lang zögerlich, aber dann rang er sich zu einem Entschluss durch und nickte.
»Du zweifelst also an der Macht der Götter«, zischte Sarn, »und erdreistest dich, Mardan selbst herauszufordern?«
Grahl wollte auffahren, aber Lea legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und wandte sich mit einem Kopfschütteln und in besänftigendem Ton an den Schamanen. »Niemand bezweifelt die Macht deiner Götter, Sarn. Sie haben lange und gut über dein Volk gewacht, und sicher waren es auch deine Gebete und eure Opfer, die Kron die Stärke verliehen haben, den Kampf gegen das Fieber zu gewinnen. Aber auch du kennst die Kraft der Natur und ihrer heilenden Kräuter und Pflanzen. Manchmal sind Gebete allein nicht genug. Vielleicht erwarten die Götter zuweilen von uns, dass wir auch die Kräfte der Natur nutzen. Wozu sonst hätten sie sie uns gegeben?«
Sarns Augen wurden noch schmaler, und sein ohnehin unansehnliches Gesicht verzog sich endgültig zu einer verkniffen hässlichen Maske aus purem Hass. Er war nicht dumm. Er spürte die Falle, die Lea ihm stellte, aber anscheinend sah er keinen Weg, ihr zu entgehen. Schließlich stieß er mit einem Schnauben die Luft aus. »Du willst die Götter also auch noch verhöhnen, Weib?«, fuhr er sie an. »Sie werden dich damit nicht ungestraft davonkommen lassen! Du hast schon viel zu lange dein Unwesen hier getrieben.«
»Lass uns unsere Kräfte zusammentun, Sarn«, antwortete Lea unbeeindruckt. »Geh und bete zu Mardan. Bring ihm Opfer. Und lass mich tun, was in meiner Macht steht.«
Arri beobachtete Sarn und ihre Mutter abwechselnd und aus angstvoll geweiteten Augen. Sie spürte, wie dünn das Eis war, auf dem sich ihre Mutter bewegte. Der Schamane hatte ihre Mutter vom ersten Tag an gehasst, an dem sie ins Dorf gekommen war, und der Umstand, dass sie auch ihm das Leben gerettet hatte, hatte daran nichts geändert, sondern es eher noch schlimmer gemacht. Er wartete seit Jahren auf eine Gelegenheit, sie zu vernichten, und vielleicht war genau dies der Anstoß, den er brauchte. Sie verstand auch ihre Mutter nicht. Sicherlich hatte sie Recht - ein einziger Blick in Krons graues, von Fieber, Durst und Erschöpfung gezeichnetes Gesicht bewies das -, aber es gab keinen Grund, Sarn so zu provozieren. Nicht ausgerechnet jetzt.
Doch wenn dies der Augenblick war, auf den Sarn seit Jahren gewartet hatte, dann ließ er ihn ungenutzt verstreichen. Eine kleine Ewigkeit lang starrte er Lea noch hasserfüllt an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Haus. Eine von Krons Frauen und zwei oder drei seiner Töchter folgten ihm, der Rest der Familie jedoch blieb, auch wenn man ihren Gesichtern ansehen konnte, wie unwohl sie sich fühlten und wie verstört sie waren.
»Das tut mir Leid«, sagte Grahl leise. Er sah Lea dabei nicht an, aber seine Stimme klang ehrlich. »Ich wollte nicht, dass...«
»Es ist nicht deine Schuld«, unterbrach ihn Lea. »Ich hätte mein Wort halten und nach deinem Bruder sehen sollen, dann wäre es nicht so weit gekommen.« Sie konnte sich einen kurzen, vorwurfsvollen Blick in Arris Richtung nicht ganz verkneifen, während sie das sagte, ging aber dann zu deren Erleichterung nicht weiter darauf ein, sondern wandte sich ihrer Aufgabe zu. »Wir brauchen Wasser, und ich fürchte, ich werde deinem Bruder noch einmal Schmerzen zufügen müssen. Er ist zu schwach, als dass ich ihm von dem Mohnpulver geben dürfte.«
Das war das Stichwort, auf das Arri gewartet hatte. Sie erinnerte sich noch zu gut an den Anblick, den Krons Arm vor drei Tagen geboten hatte, um besonderen Wert auf eine zweite Kostprobe zu legen. Zumindest im Augenblick wäre ihr selbst Rahns Gesellschaft lieber gewesen als die ihrer Mutter, denn obwohl sie bisher kein einziges entsprechendes Wort gesagt hatte, waren ihre vorwurfsvollen Blicke doch mehr als genug, um Arri klarzumachen, dass auch sie einen nicht geringen Anteil an Krons schlechtem Zustand hatte. Sie wollte aufspringen und hinauseilen, um Wasser zu holen, doch Grahl kam dem zuvor, indem er eine befehlende Geste zu einem seiner Söhne machte. Der Junge sprang auf und war verschwunden, bevor Arri ihre Bewegung auch nur zu Ende führen konnte, und sie wollte sich schon wieder enttäuscht zurücksinken lassen, doch dann wandte sich ihre Mutter zu ihr um. »Geh hinaus und such nach Rahn. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen. Geh und sag ihm, dass er auf mich warten soll.«
Arri erhob sich gehorsam und ging, wobei sie sich ganz ernsthaft fragte, ob ihre Mutter etwa ihre Gedanken gelesen hatte. Es erwies sich als nicht einmal einfach, die Hütte zu verlassen, und draußen wurde das Gedränge im ersten Moment eher noch schlimmer. Jetzt, wo der Morgen mit Riesenschritten nahte, wie ihr ein kurzer Blick auf den trübgrau gewordenen Himmel im Osten zeigte, schien tatsächlich das ganze Dorf auf den Beinen zu sein. Die Nachricht, dass sie und ihre Mutter hier waren, musste sich mit Windeseile herumgesprochen haben und hatte offensichtlich sogar dazu geführt, dass die Vorbereitungen für die Feldarbeiten und andere dringende Aufgaben sträflich vernachlässigt wurden - etwas, das Sarn unter normalen Bedingungen zu Zornesausbrüchen und wüsten Beschimpfungen veranlasst hätte, die alles, was sich auf den Beinen halten konnte, augenblicklich an die Arbeit getrieben hätten. Dass Sarn heute darauf verzichtete, war ein schlechtes Zeichen. Arri hoffte nur, dass es nicht der Zorn auf ihre Mutter war, der seine Sinne verdunkelte, sondern die schlechten Neuigkeiten, die Grahl und Kron von jenseits des großen Flusses mitgebracht hatten.