Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Mutter würde sie auslachen, wenn sie ihr mit einer solchen Deutung käme. Sie ging langsam weiter, ohne diese Frage aus dem Kopf zu bekommen - und das unangenehme Gefühl, dass ihr die Begegnung mit Sarn bei anderer Gelegenheit noch sauer aufstoßen würde. Wahrscheinlich wäre es das Beste, ihrer Mutter doch davon zu erzählen.
Arri wälzte diesen Gedanken im Kopf hin und her und klopfte ihn aus allen Richtungen ab, um zu einer Antwort zu kommen, aber es gelang ihr nicht. Schließlich hatte sie den Fuß der schmalen Stiege erreicht, die zum Eingang ihrer auf kräftigen Pfählen ruhenden Hütte hinaufführte, und brach die Grübelei ab, ohne zu einem endgültigen Ergebnis gekommen zu sein. Vielleicht hatte sie ja Glück, und ihre Mutter erfuhr nichts von ihrem Zusammenstoß mit Sarn, und wenn doch, dann konnte sie immer noch behaupten, ein verirrtes Schaf habe sie zum Steinplatz gelockt. Das wäre zwar eine glatte Lüge, und es widerstrebte Arri zutiefst, ihre Mutter ohne Not anzulügen, auf der anderen Seite - warum sollte sie ihr unnötig Kummer bereiten?
Als sie den Fuß auf die obere der ohnehin nur aus fünf Stufen bestehenden Stiege setzte, hörte sie Stimmen aus dem Haus. Ihre Mutter hatte Besuch. Das war an sich nichts Besonderes. Ihre Mutter bekam oft Besuch. Meist von Männern und Frauen aus dem Dorf, die ihren Rat in all den praktischen Dingen suchten, von denen Lea so viel verstand, oder weil ein Familienangehöriger krank geworden war und sie ihre Hilfe benötigten. Manchmal kamen sogar - zumeist weibliche - Abgesandte anderer, weiter entfernt lebender Sippen, die Ähnliches von ihr wollten, und zwei oder drei Mal allein in diesem Sommer war auch Nor angereist, der weit über die Grenzen seines Einflussbereiches gefürchtete Hohepriester und Herrscher von Goseg.
Arris anfängliche Erleichterung, dass ihre Mutter beschäftigt war und gar keine Zeit hätte, ihr Vorhaltungen wegen des eingerissenen Rocks oder der Begegnung mit Sarn zu machen, wich einer geradezu trüben Stimmung, als sie die zweite Stimme tatsächlich als Nors erkannte. Auch wenn ihre Mutter es niemals laut ausgesprochen hatte, so wusste Arri doch, dass sie den Hohepriester noch sehr viel mehr ablehnte als Arri selbst, weshalb sie nach jedem seiner Besuche regelmäßig schlecht gelaunt und reizbar war. Arri hatte nicht hingehört und wusste daher nicht, worum es in dem Gespräch zwischen ihrer Mutter und dem Herrscher von Goseg ging, doch allein der Tonfall der durcheinander redenden Stimmen machte klar, dass es sich um einen Streit handelte - oder zumindest um etwas, das dem sehr, sehr nahe kam.
Sie zögerte kurz, den kunstvoll geflochtenen Muschelvorhang beiseite zu schlagen und einzutreten, begriff aber im nächsten Augenblick, dass ihre Mutter sie längst gesehen haben musste. Ganz gleich, wer zu Besuch kam und worum es ging - ihre Mutter saß stets mit dem Gesicht zum Eingang, und da es in der Hütte weit dunkler war als draußen, musste sich ihre Gestalt deutlich hinter dem Vorhang abzeichnen. Jetzt kehrtzumachen wäre verhängnisvoll gewesen und hätte ihrer Mutter allerhöchstens Anlass zu weiterem Ärger gegeben, denn ob sie Nor nun mochte oder nicht: Er war der mächtigste Mann weit und breit, mit dem man es sich besser nicht verdarb.
So schob Arri nach einem letzten Zögern sowohl ihre Bedenken als auch das ungute Gefühl beiseite und öffnete den Vorhang; die zahllosen Muschelstückchen, die in die Baststränge eingeflochten waren, klimperten hörbar und kündigten auf diese Weise jeden Besucher an, auch wenn es diesem vielleicht gar nicht recht war. Es fiel ihr nicht schwer, einen Ausdruck von Überraschung auf ihr Gesicht zu zaubern, als sie neben dem groß gewachsenen greisen Hohepriester von Goseg einen weiteren Besucher erblickte - einen in das dunkle, fast schwarze Wickelgewand der Krieger Gosegs gekleideten Mann, dessen Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, als er ihrer ansichtig wurde.
Ihre Mutter saß nicht auf dem Korbstuhl mit der hohen Lehne, auf dem sie Besucher gewöhnlich empfing, sondern stand an dem schmalen, nach Süden gerichteten Guckloch, hatte das Gesicht aber trotzdem dem Eingang zugewandt. Der kurze, fast schon mürrische Blick, den sie Arri zuwarf, machte klar, dass es um ihre Selbstbeherrschung vielleicht nicht ganz so gut bestellt war, wie sie bisher geglaubt haben mochte. Auch Nor, der offensichtlich gerade dazu angesetzt hatte, etwas zu sagen, unterbrach sich und wandte sich zum Eingang um. Der Anblick seines von Runzeln und Falten übersäten, aber vollkommen haarlosen Gesichtes, bei dem nicht nur Kopf- und Barthaar, sondern selbst die Augenbrauen fehlten und anstelle der Wimpern nur zwei Reihen kaum wahrnehmbarer, verkümmerter schwarzer Striche zu erkennen waren, jagte Arri einen kalten Schauer über den Rücken.
Nor maß Arri mit einem wenig freundlichen Blick, was aber nichts Außergewöhnliches war. Selbst bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter nach einem Besuch des Hohepriesters nicht gereizt oder besorgt gewirkt hatte, hatte der alte Mann Arri niemals anders als unfreundlich angesehen. Aber vielleicht lag das auch an seinem nackten Schädel, dessen Anblick in all seiner abstoßenden Nacktheit für Arri fast unerträglich war, vielleicht um so mehr, weil sie gewohnt war, dass Männerköpfe weitaus haariger waren als die von Frauen, denn schließlich trugen alle anderen Männer, die sie kannte, lange Haare und dichte Bärte.
In der Tiefe ihres Herzens war Arri jedoch sicher, dass Nors abweisender Blick einen ganz anderen Grund hatte, einen Grund, der mit ihr selbst zusammenhing. Dass Nor ein gleichermaßen gefährlicher wie mürrischer Mann war, würde wohl kaum jemand, der es wagte, hinter seinem Rücken über ihn zu tuscheln, ernsthaft bestreiten wollen. Und doch glaubte sie in seinen Augen mitunter etwas zu lesen, das weit darüber hinaus ging; eine Mischung aus Zorn und... ja, beinahe Furcht, als sähe er in ihr sehr viel mehr als nur die Tochter ihrer Mutter, etwas, das für ihn gleichermaßen hassenswert wie fürchtenswert war.
Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie so hässlich war.
Zwar gewiss nicht seinem Alter, sehr wohl aber seinem Rang angemessen, hatte Nor drei Frauen, von denen zwei kaum älter als Arri und alle drei wahre Schönheiten waren, während sie sich selbst nicht im Entferntesten mit ihnen messen konnte. Es hatte schon Tage gegeben, an denen sie sich geweigert hatte, zum Fluss zu gehen und Wasser zu holen, aus Angst, ihrem Spiegelbild mit dem viel zu schmalen Gesicht zu begegnen.
Zumindest ersparte sich Nor an diesem Tag eine entsprechende Bemerkung - auch die hatte sie aus seinem Munde schon vernommen - und beließ es bei einem verächtlichen Runzeln seiner Stirn, bevor er sich mit einem unwilligen Laut wieder zu Arris Mutter umwandte. »Die Zeit ist nun endgültig gekommen, Lea, und es wird dir nichts nutzen, wenn du noch einmal versuchst hinauszuzögern, was schon vor zwei Jahren hätte geschehen müssen. Tu deine Pflicht. Das bist du den Menschen hier schuldig.«
Leas Lippen wurden schmal, was Nor vielleicht entging, für Arri aber ein untrügliches Anzeichen dafür war, wie schwer es ihrer Mutter fiel, noch die Fassung zu bewahren. In ihren dunklen, eine Spur zu großen Augen - die ebenso wie die ihrer Tochter gerade eine Winzigkeit zu weit auseinander standen, als dass die Dorfbewohner ihr Gesicht länger als ein paar Augenblicke ansehen konnten, ohne verunsichert den Blick zu senken - blitzte es zornig auf. Als sie antwortete, klang ihre Stimme jedoch kühl, fast schon teilnahmslos. »Wollt Ihr mir drohen, Nor?«
Der Hohepriester hob abwehrend die Hände. Für Arri sah es aus, als hebe ein Raubvogel seine dürren Klauen, um sich auf sein Opfer zu stürzen. »Nichts läge mir ferner. Du lebst nun schon so lange bei uns, Lea, und du hast so viel für die Menschen hier getan... auch für mich, das will ich gar nicht abstreiten. Denk an deine Tochter, wenn schon nicht an dich. Nicht alle meinen es so gut mit euch wie ich. Selbst in Goseg mehren sich die Stimmen, die meinen, dass du das Wissen, das dir die Götter geschenkt haben, nicht länger für dich behalten darfst.« Lea wollte widersprechen, doch Nor fuhr mit einem heftigen Kopfschütteln und leicht erhobener Stimme fort: »Ich weiß, dass all das nicht gerecht ist. Mancher in eurem Dorf wäre in den letzten Wintern verhungert ohne die Gaben, die du uns gebracht hast, und nicht nur hier. Deswegen will ich dir auch nicht befehlen, sondern appelliere an deine Einsicht. Aber ich muss dich auch warnen: Verspiele nicht meine Gunst, und reize nicht die Götter Gosegs, unter deren Schutz du hier bislang unbeschadet gelebt hast!«