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Vergeblich versuchte Arri, in den Gesichtern der Menschen zu lesen, zwischen denen sie sich nun hindurchquetschte. Sie entdeckte Rahn fast am anderen Ende der Menschenmenge und arbeitete sich sofort zu ihm durch, doch gerade als sie nahe genug war, um mit einem Winken seine Aufmerksamkeit erheischen zu können, bemerkte sie, dass der Fischer nicht allein war. Er war in eine erregte Auseinandersetzung mit Sarn verwickelt, bei der sich sein Part allerdings fast ausschließlich aufs Zuhören und ein gelegentliches zustimmendes Nicken beschränkte.

Arri ging langsamer und blieb schließlich stehen, obwohl sie im Grunde schon viel zu nahe war, um jetzt noch zurückzukönnen. Rahn brauchte sich nur umzudrehen, um sie zu sehen. Nachdem sie ihn mit dem Wasserkrug vor allen anderen gedemütigt hatte (was war da bloß in sie gefahren? Sie wusste doch, wie empfindlich der Fischer in dieser Beziehung war!), hegte er wahrscheinlich einen abgrundtiefen Groll auf sie. Ganz zu schweigen davon, dass sie jetzt ohne den Schutz ihrer Mutter einer Menschenmenge gegenüberstand, die Sarn in den zurückliegenden drei Tagen mit Sicherheit nach Kräften gegen sie aufgehetzt hatte. Aber sie hatte Glück. Sarn sprach noch zwei oder drei Sätze, machte dann eine abschließende, herrische Geste in Richtung des Fischers und fuhr herum, ohne auch nur einen einzigen Blick in ihre Richtung zu werfen. Während er nun davonstapfte, wirkte er plötzlich nicht mehr annähernd so müde und kraftlos wie noch vor ein paar Augenblicken in der Hütte, befand Arri.

Sie wartete, bis der Schamane außer Hörweite war, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und trat auf Rahn zu. Der hünenhafte Fischer wirkte nicht überrascht, sie zu sehen, nur verächtlich und vielleicht auch ein bisschen heimtückisch. Noch bevor er etwas sagen konnte, wurde ihr klar, dass er sie schon eine ganze Weile beobachtet haben musste. Umso erstaunlicher, dass er den Schamanen nicht darauf aufmerksam gemacht hatte... Sarn hätte sich die Gelegenheit ganz gewiss nicht entgehen lassen, sie vor aller Ohren zu beschimpfen und zu erniedrigen.

»Was willst du?«, herrschte Rahn sie an.

»Meine Mutter will mit dir reden«, antwortete Arri. »Ich soll dir sagen, dass du hier auf sie warten sollst.«

»Und wie kommst du auf die Idee, dass sie mir etwas zu sagen hätte?«, gab Rahn übellaunig zurück.

Arri schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie waren nicht allein, und Rahn gab sich nicht die geringste Mühe, leise zu sprechen. Arri konnte regelrecht spüren, wie die meisten der Umstehenden die Ohren spitzten, und sie sah auch, dass einige ganz unverblümt zu ihr und dem Fischer hinsahen. Ihre Mutter würde gewiss nicht begeistert sein, wenn herauskäme, dass sie schon wieder in einen Streit mit Rahn verwickelt gewesen war.

»Sie lässt dich bitten, auf sie zu warten«, sagte sie, mühsam beherrscht. »Ich weiß nicht, was sie von dir will, aber ich glaube, es ist wichtig.«

Rahn schürzte verächtlich die Lippen. »So, unsere selbst ernannte Heilerin und oberste Wetterprophetin hat also etwas Wichtiges mit einem einfachen Fischer wie mir zu besprechen. Nun, dann werde ich wohl besser auf sie warten. Wo kämen wir denn hin, wenn ein einfacher dummer Fischer wie ich es wagen würde, sich dem Wunsch einer so mächtigen Frau zu widersetzen?«

Diesmal fiel es Arri wirklich schwer, ihre Antwort für sich zu behalten. Rahn war auf Streit aus, was für sich genommen nichts Besonderes war; aber da war etwas in dem tückischen Glitzern in seinen Augen, das sie warnte. Vielleicht war sie besser beraten, wenn sie jetzt einfach gar nichts mehr sagte.

Sie schwieg, und zumindest erreichte sie damit eines, nämlich, dass Rahn sich ärgerte. Anscheinend hatte er fest damit gerechnet, dass sie widersprechen oder gar versuchen würde, ihn zurechtzuweisen, und sich bereits eine passende Antwort zurecht gelegt. Als er keine Gelegenheit bekam, sie loszuwerden, blitzte es in seinen Augen so wütend auf, dass Arri sich unwillkürlich spannte, dann aber verzog er nur noch einmal und noch verächtlicher die Lippen, drehte sich auf dem Absatz um und ging die paar Schritte zum Fluss hinunter. Arri blickte ihm unentschlossen nach. Ihr war ziemlich klar, was ihre Mutter jetzt von ihr erwartet hätte - nämlich, dass sie dem Fischer folgte und versuchte, ihn milder zu stimmen, oder dass sie sich gar für ihr Verhalten in den letzten Tagen ihm gegenüber entschuldigte. In einem plötzlichen Anflug seltener Vernunft war sie sogar nahe daran, ganz genau das zu tun, aber der Augenblick verging, ohne dass sie Gefahr lief, der Verlockung zu erliegen, und im nächsten Moment zupfte sie jemand am Ärmel. Arri fuhr verärgert herum, aber es war nur Osh, der zusammen mit einigen anderen Kindern aus dem Dorf hinter ihr aufgetaucht war. Der spöttische Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er ihr kleines Gespräch mit Rahn mit angehört hatte.

»Dem hast du es aber gegeben«, sagte er hämisch.

»Was willst du?«, fragte Arri unwirsch. Oshs Augen wurden schmaler, und Arri rief sich in Gedanken zur Ordnung. Sie musste Acht geben, ihren Ärger über Rahn - und vor allem natürlich über den Schamanen - nicht an dem Jungen auszulassen. Was Osh von ihr dachte oder über sie sagte, konnte ihr herzlich egal sein, aber angefangen von der Begegnung mit Sarn am Steinkreis, von der sie ihrer Mutter immer noch nichts erzählt hatte, hatte sie in den letzten Tagen wahrhaftig schon genug Schaden angerichtet. Etwas hatte sich geändert, grundlegend und unumkehrbar. Bisher hatte sich ihre Mutter selten eingemischt, wenn sie mit einem der anderen Kinder aus dem Dorf Streit hatte oder auch mit einem Erwachsenen, und sie allerhöchstens sanft zur Ordnung gerufen, wann immer sie der Meinung war, dass sie es zu toll trieb. Doch jetzt spürte sie, dass diese Zeiten vorbei waren. Vielleicht gehörte auch das zum Erwachsenwerden dazu, dachte sie; dass sie nicht mehr tun und lassen konnte, was sie wollte, und schon gar nicht sagen.

»Ist es wahr, was Sarn über deine Mutter und dich erzählt?«, fragte Osh, der seine Überraschung überwunden und erneut ein hässliches Grinsen aufgesetzt hatte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Arri. Nicht, dass sie es sich nicht denken konnte. »Was sagt er denn über uns?«

Osh tauschte einen raschen, fast triumphierenden Blick mit den beiden dunkelhaarigen Jungen, die rechts von ihm standen, und Arri gemahnte sich im Stillen noch einmal und noch nachdrücklicher zur Ruhe. Osh und seine Freunde waren nicht zufällig gerade jetzt hier aufgetaucht, und sie waren zweifellos ebenso auf Streit aus, wie Rahn es gewesen war. Nur, dass sie Osh - so weit das überhaupt möglich war - für noch dümmer als den Fischer hielt. Vielleicht erfuhr sie ja von ihm, was hier eigentlich los war. Der Junge setzte zu einer Antwort an, aber Arri drehte sich fast gemächlich um und ging langsam zur ruhig dahinfließenden Zella hinunter; nicht direkt auf Rahn zu, aber doch ungefähr in seine Richtung. Wie sie erwartet hatte, folgten ihr Osh und die anderen. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Jungen über sie herfallen würden - nicht jetzt und schon gar nicht hier, wo das ganze Dorf zusah -, aber man konnte schließlich nie wissen. Es war besser, sie blieb auf der Hut.

»Der Stammesälteste sagt, dass deine Mutter und du schuld an all dem Unglück seid, das uns getroffen hat«, beantwortete Osh ihre Frage, nachdem er mit einigen schnellen Schritten zu ihr aufgeholt hatte und gerade dicht genug neben ihr herging, dass ihr seine Nähe unangenehm wurde.