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»So?«, meinte Arri. »Von welchem Unglück sprecht ihr denn? Von den besseren Ernten, die ihr habt, seit wir hier sind? Oder von all den Krankheiten, die meine Mutter geheilt hat? Oder den besseren Waffen und Werkzeugen, die ihr dank ihrer Hilfe herstellt?«

Sie sah Osh bei diesen Worten nicht an, sodass sie seine Reaktion darauf nicht auf seinem Gesicht ablesen konnte, doch der gehässige Unterton seiner Stimme nahm noch zu. »Achk hat sein Augenlicht verloren, und deine Mutter ist schuld daran.«

Arri blieb mitten im Schritt stehen und drehte sich so abrupt zu dem Jungen herum, dass er hastig einen halben Schritt vor ihr zurückwich und abwehrend die Hände hob. »Wer sagt das?«

»Sarn«, antwortete Osh verdattert. »Jeder weiß das.«

»Unsinn!«, erwiderte Arri. »Es war ein Unfall, für den niemand etwas konnte. Achk nicht und meine Mutter schon gar nicht.«

»Jeder weiß es«, beharrte Osh stur. »Und Sarn hat es auch gesagt. Achks Schmelzofen ist zerborsten, weil er die Künste seiner Väter verraten hat und dem falschen Zauber erlegen ist, den deine Mutter ihm eingeflüstert hat.«

Osh bewegte sich zielstrebig auf den Punkt zu, an dem er Bekanntschaft mit dem höchst realen Zauber von Arris rechter Faust machen würde. Vielleicht war der einzige Grund, aus dem sie sich noch beherrschte, der, dass sie in diesem Moment das Gefühl hatte, nicht so sehr Oshs Stimme zu hören, sondern vielmehr die des alten Schamanen. »Das hat Sarn gesagt?«

»Jeder weiß es.« Osh stülpte trotzig die Unterlippe vor. »Und was ist mit den fremden Kriegern? So etwas ist noch nie vorgekommen. Und jetzt, wo ihr hier seid...«

»Nach mehr als zehn Sommern«, sagte Arri spöttisch.

»... tauchen sie plötzlich wie aus dem Nichts auf und schleichen durch die Wälder«, fuhr Osh unbeeindruckt fort. »Vielleicht haben sie euch ja vorausgeschickt, um uns auszuspähen, und jetzt werden sie bald kommen, um uns alle zu töten oder uns noch Schlimmeres anzutun.«

Welch ein Unsinn!, dachte Arri. Sie wusste nicht, ob sie Osh einfach mit einem gezielten Hieb auf die Nase zum Schweigen bringen oder ihn auslachen sollte. Schließlich beließ sie es bei einem Kopfschütteln und einem mitleidigen Blick, den selbst dieser Dummkopf verstand. Aber da war noch etwas, das Osh gesagt und das sie im allerersten Moment gar nicht richtig begriffen hatte. »Was soll das heißen - sie schleichen durch die Wälder?« Plötzlich erinnerte sie sich wieder daran, wie seltsam sich ihre Mutter auf ihrem Weg nach Hause benommen hatte.

»Die Männer haben Spuren gefunden.« Osh deutete triumphierend auf Rahn, der nur wenige Schritte entfernt stand und nicht einmal in ihre Richtung sah. Dennoch erkannte Arri allein an seiner Haltung, dass er offenbar angestrengt lauschte.

»Sarn hat Rahn und ein paar von den anderen in die Wälder geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Sie sind auf Spuren gestoßen. Spuren von Fremden, die nicht hierher gehören.«

»Ist das wahr?«, wandte sich Arri direkt an den Fischer. Und fast hätte sie hinzugefügt: »Von Fremden oder von meiner Mutter?« Aber das ließ sie dann doch besser bleiben.

Aus Krons Hütte drang ein kurzes, aber schmerzerfülltes Brüllen zu ihnen, das sie alle herumfahren und in die entsprechende Richtung blicken ließ, aber diesem ersten Schrei folgte kein zweiter, nur das Weinen eines Kindes, das wohl über den Laut erschrocken war.

»Also - wie war das mit den Spuren?«, hakte Arri nach, nachdem sie sich wieder dem Fischer zugewandt hatte. »Du hast sie gefunden?«

Rahn tat so, als hätte er ihre Frage gar nicht gehört oder zumindest nicht verstanden, dass sie ihm galt. Vielleicht hätte er mit dieser Taktik sogar Erfolg gehabt, dann aber beging er den Fehler, für einen Moment in ihre Richtung zu sehen, und als er Arris Blick begegnete, zerbröckelte sein Widerstand so schnell, dass man regelrecht dabei zusehen konnte - etwas, das Arri mehr als befremdend gefunden hätte, wäre es zum ersten Mal geschehen. Aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, dass etliche Männer und Frauen im Dorf auf eine Weise auf sie reagierten, die höchstens ihrer Mutter gegenüber angemessen gewesen wäre, und sie hatte längst aufgehört, über den Grund dafür nachzugrübeln. Einen Moment lang druckste Rahn noch herum, dann rettete er sich in ein angedeutetes Schulterzucken und eine gemurmelte Antwort, die so leise war, dass Arri sie vermutlich nicht einmal dann verstanden hätte, hätte er sie ihr direkt ins Ohr geflüstert.

»Ich nehme an, das heißt nein«, vermutete sie.

»Da waren Spuren«, beharrte Rahn im trotzigen Tonfall eines Kindes, das bei einer Missetat ertappt worden ist und sich herauszureden versucht, obwohl es ganz genau weiß, wie wenig das fruchtet.

»Aber du hast sie nicht selbst gesehen«, bohrte Arri nach.

Rahns Blick war jetzt regelrecht hasserfüllt. »Nein«, gestand er widerwillig. »Aber die anderen. Warum sollten sie mich anlügen?«

»Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem sie behaupten, meine Mutter wäre eine Hexe und brächte nur Unglück über euch alle«, antwortete Arri.

»Wer behauptet so etwas?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Arri fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um und zuckte dann noch einmal und noch heftiger zusammen, als sie ihre Mutter erkannte. Sie war so leise hinter ihr aufgetaucht, dass sie ihre Schritte nicht einmal gehört hatte, so wenig, wie sie sich des Umstands bewusst geworden war, dass sie nun praktisch allein am Flussufer standen. Die Menschenmenge vor Krons Hütte hatte nicht sichtbar abgenommen, doch die Männer und Frauen hatten eine Gasse für ihre Mutter gebildet, die sich bislang nicht wirklich geschlossen hatte, und auch jetzt waren die meisten Gesichter in ihre Richtung gewandt und nicht in die der Hütte. Arri bemerkte dies jedoch nur beiläufig, denn der Blick, mit dem ihre Mutter sie maß, entging ihr keineswegs.

Sie sprühte vor Zorn. Arri war erschrocken, aber auch verwirrt. Was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht? Sie hatte das Gefühl, die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage in den Augen ihrer Mutter lesen zu können, wenn sie nur genau genug hinsah, aber eigentlich wollte sie das gar nicht. Ohne die Frage zu beantworten, drehte sie sich wieder um und hielt nach Osh und den anderen Kindern Ausschau, aber sie waren ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie vorhin aufgetaucht waren.

»Ich danke dir, dass du auf mich gewartet hast«, fuhr ihre Mutter fort, nunmehr direkt an den Fischer gewandt und in deutlich versöhnlicherem Tonfall als soeben. Rahn reagierte auf seine gewohnte Art - mit einem trotzigen Blick in Leas Richtung -, beließ es darüber hinaus jedoch bei einem Schulterzucken, und Arris Mutter fuhr fort: »Ich habe eine Aufgabe für dich, Rahn - natürlich erst, nachdem du dich ausreichend erholt hast. Sarn hat mir erzählt, dass du die vergangenen Nächte fast ohne Pause an Krons Lager gewacht hast, wofür ich dir danke, denn es wäre eigentlich meine Aufgabe gewesen - oder die meiner Tochter.«

»Kron ist mein Freund«, antwortete Rahn in leicht verwirrtem Ton, während sein Blick unstet zwischen den Gesichtern Arris und ihrer Mutter hin und her wanderte.

»Trotzdem hätte das noch lange nicht jeder für ihn getan«, beharrte Lea. Sie kam näher. »Immerhin hast du deine eigene Arbeit vernachlässigt. Und dazu noch das, was Sarn von dir verlangt hat...« Sie schüttelte den Kopf und kleidete nicht in Worte, was sie davon hielt, wodurch sie es aber eigentlich nur umso deutlicher kundtat. Die Verwirrung auf Rahns Gesicht hatte mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das Arri schon fast lächerlich erschien. Trotzdem hütete sie sich, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Aus einem Grund, den sie immer weniger verstand, schien ihre Mutter mit jedem Moment wütender auf sie zu werden. Dabei hatte sie doch nur getan, was sie ihr aufgetragen hatte.

»Ich soll nicht mit dir reden«, sagte Rahn.

»Wer sagt das?«, erkundigte sich Lea. Diesmal antwortete Rahn nicht, aber das schien Lea auch gar nicht erwartet zu haben. Sie nickte nur wissend, und ein flüchtiges, resignierendes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie sah sich wie zufällig um, und obwohl dabei auf ihrem Gesicht nicht die mindeste Regung abzulesen war, folgte Arris Blick dem ihrer Mutter doch in eine ganz bestimmte Richtung, und sie war nicht überrascht, Sarn dort stehen zu sehen. Er wirkte erschöpft und hatte sich schwer auf seinen Stock gestützt, was ihn aber nicht daran hinderte, mit dem anderen Arm wild zu winken.