»Vor allem möchte ich mich bei dir entschuldigen«, sagte Lea schließlich. »In letzter Zeit hat es eine Menge... Missverständnisse zwischen uns gegeben, die ich bedauere.« Sie warf Arri einen raschen, fast drohenden Blick zu. »Vor allem meine Tochter hat sich den einen oder anderen... Fehltritt geleistet. Es tut ihr Leid. Habe ich Recht?«
Die letzte Frage galt Arri, die mit einem verwirrten Blick und dann aber auch mit einem - wenn auch widerwilligen - Nicken in Rahns Richtung darauf reagierte. Die Augen des Fischers wurden schmal. Wenn sie jemals einen Ausdruck von Misstrauen auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte, dann jetzt auf Rahns. Er sagte nichts. Auch Arris Mutter schwieg eine Weile und sah ihn nur erwartungsvoll an, dann wurde ihr klar, dass sie keine Antwort bekommen würde. Sie griff unter ihr Kleid, und als sie die Hand wieder hervorzog, lag eine schimmernde Perle aus Oraichalkos auf ihrer Handfläche. In dem flackernden gelben Licht, das die Öllampe verbreitete, schien der Stein leicht zu pulsieren, wie ein winziges schlagendes Herz, das mit geheimnisvollem Leben erfüllt war. Der Ausdruck von Misstrauen auf Rahns Gesicht blieb, nun aber mischte sich eine jäh aufflammende Gier hinein, die er kaum noch beherrschen konnte. Seine Hand zuckte, als wolle er nach dem Stein greifen, bewegte sich dann aber doch nicht.
»Du weißt, was das ist?«, fragte Lea.
Rahn starrte sie nur an. Ein weiterer Ausdruck gesellte sich zu dem Durcheinander von Gefühlen in seinem Blick: Verwirrung.
»Willst du ihn haben?«, fragte Lea geradeheraus.
Für einen kurzen Moment wurde die Gier in Rahns Augen fast übermächtig, dann aber trat er mit einer übertriebenen Bewegung zurück und schüttelte den Kopf. »Du machst dich über mich lustig.«
Arri konnte Rahns Reaktion durchaus verstehen. Auch wenn sie nicht viel von solcherlei Dingen verstand und sich auch nie wirklich dafür interessiert hatte, so wusste sie doch, von welch enormem Wert der Stein in der Hand ihrer Mutter war. Nors Halskette zierten mehrere und zum Teil deutlich größere Perlen aus Oraichalkos, doch selbst Sarn war nicht reich genug, auch nur einen einzigen dieser wertvollen Steine zu besitzen. Es hieß, dass man ihr Gewicht je nach Größe und Schönheit mit dem Drei- bis Fünffachen in Gold aufwog. Arri interessierte sich weder für Gold noch für Oraichalkos oder irgendetwas anderes, das sich zwar gewinnbringend eintauschen ließ, man aber weder essen noch zu irgendeinem anderen, wirklich nutzbringenden Zweck verwenden konnte. Selbst als Schmuck erschien es Arri nicht besonders reizvoll. Jede Kette aus bunten Sommerblumen, die sie sich umband oder ins Haar flocht, war hundertmal schöner. Dennoch war nicht zu übersehen, wie schwer es Rahn fiel, ihrer Mutter den Stein nicht einfach aus der Hand zu reißen.
»Ich meine es ernst«, beharrte Lea. »Du kannst ihn dir verdienen, wenn du es möchtest.«
In Rahns Gesicht arbeitete es. Einen Moment lang war er sichtlich hin und her gerissen zwischen Gier, Misstrauen und noch etwas anderem, das Arri nicht genau einordnen konnte, obgleich sie zu spüren glaubte, dass es von allen einander widerstrebenden Gefühlen das stärkste war. Dann jedoch schüttelte er noch einmal und noch entschiedener den Kopf. Es gelang ihm nicht wirklich, den Blick von der honigfarben schimmernden Versuchung auf Leas Handfläche loszureißen, doch er trat entschlossen einen weiteren halben Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, wie um seinen Händen die Gelegenheit zu nehmen, sich selbstständig zu machen und zu tun, wofür er nicht den Mut hatte. »Das ist eine Falle«, behauptete er.
Lea lachte leise. »Eine Falle?«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Warum sollte ich wohl etwas so Dummes tun? Und was könnte ich dir schon antun - selbst, wenn ich es wollte?« Sie schüttelte noch einmal den Kopf und schloss dann die Hand um den Stein, und wieder flackerte Gier in Rahns Augen auf. »Nein. Ich weiß, ich hätte es schon längst tun sollen, aber ich entschuldige mich noch einmal in aller Form für alles, was zwischen uns vorgefallen ist. Und vor allem für alles, was Arri gesagt und möglicherweise getan hat. Sie hat noch nicht ganz begriffen, dass Zurückhaltung mitunter eine Tugend sein kann, aber ich versichere dir: Das wird sie schon noch lernen.«
Rahn schwieg. Sein Blick tastete misstrauisch über Leas Gesicht, als suche er nach einer Spur von Verrat und Heimtücke darin, wollte aber auch immer wieder ihre Hand suchen, in der der verlockende Schatz verborgen war. Arri konnte ihm regelrecht ansehen, wie angestrengt er nach Worten suchte und sie nicht fand.
»Ich will dir nichts vormachen, Rahn«, fuhr Lea fort. »Es ist gewiss nicht so, als hätte ich dich plötzlich in mein Herz geschlossen, und ich erwarte auch umgekehrt nicht, dass du uns alles verzeihst und all das vergisst, was Sarn und ein paar von den anderen dir vielleicht über uns erzählt haben. Aber die Dinge haben sich geändert, und so, wie es aussieht, brauchen Arri und ich Hilfe. Die Hilfe eines Mannes, dem wir vertrauen können. Und wer wäre da besser geeignet als du?«
Rahn runzelte die Stirn, und Arri fragte sich besorgt, ob ihre Mutter den Bogen nicht überspannte. Rahn mochte ein Dummkopf sein, doch wie viele gerade nicht besonders intelligente Menschen besaß er ein feines Gespür dafür, wenn sich jemand über ihn lustig machte oder versuchte, ihn hinters Licht zu führen.
»Wobei?«, fragte er misstrauisch.
»Bei verschiedenen Dingen«, antwortete Lea. Sie schüttelte hastig den Kopf, wie um jedem Widerspruch des Fischers von vornherein zuvorzukommen. »Keine Sorge - niemand wird es erfahren, und selbst wenn, ich verlange nichts von dir, was dir oder irgendeinem hier im Dorf schaden würde.«
»Was gäbe es denn, was du und deine Tochter nicht allein viel besser könntet?«, erkundigte sich Rahn misstrauisch. »In all den Jahren habt ihr keinen von uns gebraucht.«
»Das ist wahr«, erwiderte Lea. »Aber die Dinge ändern sich. Ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, die ihr nicht habt, und ich weiß manches, was ihr nicht wisst. Letzten Endes bin ich jedoch nur eine Frau, und meine Tochter bislang noch nicht einmal das. Ich brauche einen Mann für gewisse Tätigkeiten, zu denen ich selbst nicht in der Lage bin.« Sie hob wieder die Hand und ließ ihn den Stein sehen. »Du kannst diesen Stein haben, und wenn du alles zu meiner Zufriedenheit erledigst, bekommst du im nächsten Frühjahr einen zweiten dazu, sobald die Saat ausgebracht ist. Länger werde ich deine Dienste wahrscheinlich nicht benötigen.«
Rahn dachte angestrengt nach, aber schließlich - und ganz offensichtlich nicht nur zu Arris Überraschung - schüttelte er noch einmal den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich traue dir nicht. Und selbst wenn - was sollte ich damit? Sarn würde ihn mir ohnehin wieder wegnehmen.«
Lea starrte ihn einen Moment lang fast fassungslos an, und als sie dann endlich antwortete, umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen. »Du musst ihm nicht erzählen, dass du ihn hast. Du kannst diesen Stein und den anderen nehmen und in ein anderes Dorf gehen. Du wärst ein reicher Mann. Du könntest dir jede Frau aussuchen, die du haben willst, oder auch gleich mehrere, ganz wie es dir gefällt. Was erwartet dich hier?«
Sie war klug genug, nicht hinzuzufügen, dass er immer ein armer Fischer bleiben würde, dem die anderen nur deshalb nicht ganz offen ins Gesicht sagten, was sie von ihm hielten, weil sie seine Fäuste fürchteten; aber das schien auch gar nicht nötig zu sein. Für die Dauer von zwei, drei hämmernden Herzschlägen starrte Rahn sie so wütend an, als hätte sie es gesagt.
»Und was... müsste ich dafür tun?«, fragte er schließlich stockend.
»Nichts, dessen du dich schämen müsstest«, antwortete Lea, »oder das die anderen nicht erfahren dürften. Ich will, dass du Augen und Ohren für mich offen hältst und mir alles berichtest, was mit den Fremden zu tun hat. Ich will wissen, ob es diese Spuren wirklich gibt oder ob Sarn sie nur erfunden hat, um ein bisschen Angst zu verbreiten.«