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»Dann hat er also Recht«, zischte Rahn. »Sie haben dich vorausgeschickt. Du gehörst zu ihnen und bist nur hier, um uns auszuspähen.«

So unsinnig dieser Vorwurf auch war, fand es Arri doch empörend, ihn aus Rahns Mund zu hören. Ihre Mutter jedoch lachte nur leise und schüttelte spöttisch den Kopf. »Dummkopf. Wäre es so, würde ich dann ausgerechnet dich bitten, mir zu helfen? Nein. Ich gehöre weder zu diesen Fremden, noch weiß ich, wer sie sind. Ganz im Gegenteil. Ich fürchte, dass Sarn die Gefahr unterschätzt - sollte es diese fremden Krieger tatsächlich geben. Jemand muss ihn warnen.«

»Und warum tust du es nicht selbst?«

»Weil er mir ganz gewiss nicht glauben würde«, erwiderte Lea.

Das gab Rahn für einige Augenblicke Stoff zum Nachdenken, während Arri ihre Mutter verwirrt ansah. Sie hatte ihr ja vor ein paar Tagen selbst gesagt, dass es an der Zeit war, sich einen Freund zu kaufen, aber warum ausgerechnet Rahn? Von allen im Dorf - Sarn selbst einmal ausgenommen - war Rahn womöglich derjenige, dem sie am allerwenigsten trauen konnten, vielleicht oder gerade weil sie ständig mit ihm zu tun hatten.

»Und was sonst noch?«, fragte Rahn. Wieder suchte sein Blick die schimmernde, goldgelbe Träne auf Leas Handfläche, und diesmal verharrte er lange genug darauf, um auch Arri klarzumachen, dass er seine Entscheidung im Grunde schon gefällt hatte und jetzt nur noch nach Gründen suchte, um sie vor sich selbst zu rechtfertigen.

»Nicht allzu viel«, antwortete Lea, »aber auch nicht wenig. Ein paar Botengänge, dann und wann. Vielleicht werde ich dich zu einem der anderen Stämme schicken, um das eine oder andere für mich zu holen. Das Wichtigste aber ist meine Tochter.«

Arri sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und starrte ihre Mutter aus aufgerissenen Augen an, und auch Rahn wirkte kaum weniger fassungslos. »Deine Tochter?«, wiederholte er verständnislos.

Arri wollte selbst etwas einwenden, aber ihre Mutter warf ihr einen so zornigen Blick zu, dass sie es nicht wagte, auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben. »Ich möchte, dass du Arri beschützt. Du wirst ein Auge auf sie werfen, wann immer sie die Hütte verlässt und ich nicht bei ihr bin, und du wirst mir alles berichten, was andere über sie sagen. Insbesondere Sarn.«

»Aber...«, begann Arri.

»Schweig!«, herrschte ihre Mutter sie an. »Was immer du sagen willst, spare es dir.« Sie wandte sich wieder an den Fischer. »Sind wir uns einig? Du wirst Arri beschützen, und du weißt, was ich damit meine.«

Wieder verging eine kleine Ewigkeit, in der Rahn nichts anderes tat, als Arris Mutter anzustarren, aber dann nickte er, auch wenn man ihm ansehen konnte, wie schwer es ihm fiel. »Bis zum nächsten Frühjahr.«

»Bis die Saat ausgebracht ist«, bestätigte Lea. »Wenn das letzte Feld bestellt ist, bekommst du deinen Lohn und bist frei.«

Rahn nickte. Er sah nicht nur so aus, als begänne er jetzt schon seine Entscheidung zu bedauern, sondern wirkte auch verstörter als zuvor, was Arri nur zu gut nachempfinden konnte, denn ihr erging es nicht wesentlich anders. Was meinte ihre Mutter mit wenn das letzte Feld bestellt ist? Nor würde sie kaum so lange in Ruhe lassen!

»Dann geh jetzt«, sagte Lea. »Bevor noch jemand merkt, dass du hier bist. Ich werde Arri zu dir schicken, wenn ich dich brauche.«

Rahn ging so schnell, dass es zu nichts anderem als einer Flucht wurde, und Arri wartete nicht einmal, bis seine Schritte draußen auf der Stiege verklungen waren, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und ihre Mutter anfuhr: »Was bedeutet das? Was soll das heißen, er soll auf mich aufpassen? Wieso ausgerechnet er? Und wieso brauche ich überhaupt jemanden, der über mich wacht?«

Die Reaktion ihrer Mutter war anders, als sie erwartet hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihr einen so unverschämten Ton niemals durchgehen lassen, jetzt aber sah sie ihre Tochter nur einen Atemzug lang traurig an und sagte dann leise: »Rahn spioniert uns sowieso hinterher. Ist es dann nicht viel klüger, ihn für unsere Zwecke einzubinden?«

6

Arri hätte selbst nicht genau sagen können, was sie erwartet hatte - doch für die nächsten fünf oder sechs Tage geschah rein gar nichts Außergewöhnliches, sah man einmal davon ab, dass Rahn ihr ganz offensichtlich aus dem Weg ging und sie selbst alle Hände voll zu tun hatte, um ihren kleinen Garten in Schuss zu halten und ihr sonstiges Tagwerk zu verrichten. Anfangs hatte sie noch ein paar Mal versucht, mit ihrer Mutter zu reden, aber stets entweder gar keine oder aber eine so abweisende Antwort erhalten, dass sie es bald aufgegeben und sich in beleidigtes Schweigen gehüllt hatte. Ihrer Mutter schien das nur recht zu sein. Anders als Arri es erwartet hätte, rief sie sie nicht zur Ordnung, sondern beließ es dabei, ihr dann und wann einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen - und ihr selbstverständlich die unangenehmsten und schwersten Arbeiten aufzutragen, die ihr nur einfielen.

Wenigstens kam es Arri so vor. Jeden Morgen schickte Lea sie mit frischem Verbandszeug und Salbe zu Kron, damit sie seine Wunden behandelte und sie selbst über die Genesung des Jägers auf dem Laufenden hielt. In den ersten ein oder zwei Tagen war Arri sicher, dass ihre Mutter das nur tat, um sie zu bestrafen, denn wann immer Kron sich dazu aufraffen konnte, überschüttete er sie mit den wüstesten Flüchen und Verwünschungen; und wenn er dazu zu müde oder zu erschöpft war, starrte er sie wütend und hasserfüllt zugleich an. Außerdem wurde der Weg zu seiner Hütte und wieder zurück jedes Mal zur reinen Qual für sie.

Einmal war sie Sarn begegnet, der zwar nichts gesagt hatte, aber das war auch nicht nötig gewesen - der Blick, mit dem er sie gemustert hatte, war schlimmer gewesen als alles, was er hätte sagen können; ein anderes Mal waren ihr Osh und einige der anderen Kinder aus dem Dorf nachgelaufen und hatten ihr etwas hinterhergeschrien, was sie einfach nicht hatte verstehen wollen, ja, eines von ihnen hatte es sich sogar nicht verkneifen können, ihr einen Erdklumpen nachzuschleudern, der sie aber weit verfehlt hatte. Arri war mehr als wütend auf ihre Mutter. Sie schickte sie nicht nur ausgerechnet zu dem Menschen im Dorf, der sie am allerwenigsten sehen wollte, sondern hatte ihr auch noch diesen Irren Rahn auf den Hals gehetzt. Dass sie ihn in all der Zeit nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekam, änderte überhaupt nichts an ihrem Zorn, ja, auf eine gewisse Art schien es ihn eher noch schlimmer zu machen, denn ein Rahn, den sie sah, war ihr hundertmal lieber als einer, den sie nicht sah und der hinter ihrem Rücken wer weiß was ausbrütete.

Dann aber geschah etwas Seltsames. Arri fühlte sich von der schrecklichen Aufgabe, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, noch immer gleichermaßen angewidert wie gedemütigt; Krons Armstumpf heilte zwar gut, und nicht nur das, sondern auch mit geradezu erstaunlicher Schnelligkeit, aber er bot trotzdem einen schrecklichen Anblick. Vielleicht waren es nicht einmal so sehr die entzündete Narbe und das rote, nässende Fleisch, von dem trotz allem noch immer ein leicht brandiger Geruch ausging, und ganz gewiss nicht Krons Beleidigungen und Flüche, die sie schon nach den ersten Besuchen kaum noch wahrnahm. Nein, was ihre Besuche in seiner Hütte so schrecklich machte, das war der Umstand, dass ihr sein Anblick die Verwundbarkeit Krons - und damit auch ihre eigene - vor Augen führte. Kron und seine beiden Brüder waren die mit Abstand stärksten Männer im Dorf gewesen. Das war stets so gewesen, und es hatte für Arri nie einen Zweifel daran gegeben, dass sie es auch bleiben würden. Nichts und niemand, nicht der furchtbarste Sturm, nicht der bitterste Winter und nicht das schrecklichste Raubtier, so hatte sie immer geglaubt, konnte diesen drei Männern etwas anhaben; wahrscheinlich noch nicht einmal ein Höhlenbär.

Nun war einer von ihnen tot und würde nie wiederkommen, der andere ein Krüppel, der nur durch das Wissen ihrer Mutter und die Gnade des Schicksals überhaupt noch lebte, und der Dritte, auch wenn er sich alle Mühe gab, sich nichts von seinen wahren Gefühlen anmerken zu lassen, ein gebrochener Mann, in dessen Augen eine Angst Einkehr gehalten hatte, die nie wieder daraus verschwinden würde. Arri fühlte sich verwundbar und hilflos, wenn sie in der Hütte des Jägers war. Was immer diesen drei Männern wirklich zugestoßen sein mochte - wie konnte irgendjemand hier im Dorf glauben, einer Gefahr Herr zu werden, mit der nicht einmal Grahl und seine Brüder fertig geworden waren?