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Aber zugleich geschah noch etwas anderes, dass ihr am Anfang nicht einmal klar war. Ihr Widerwille, die vereiterten, übel riechenden Verbände zu lösen und Krons Wunde zu säubern, wurde keinen Deut schwächer. Ganz im Gegenteil schien er immer noch zuzunehmen, fast so als gäbe es Dinge, an die man sich nicht gewöhnen konnte, sondern die ganz im Gegenteil immer schlimmer wurden, je öfter man sie tat. Und trotzdem stellte sie schon bald etwas ganz Erstaunliches fest: Krons Wunde heilte langsam, aber sie heilte, und Arri begann Freude daran zu empfinden. Hatte sie sich noch am Anfang dazu zwingen müssen, den schrecklichen Stumpf auch nur anzusehen, so erfüllte sie nun jeder noch so kleine Fortschritt mit Freude. Bald musste sie sich nicht mehr dazu zwingen, sondern untersuchte die Wunde ganz im Gegenteil höchst aufmerksam und nahm jedes noch so winzige Zeichen einer Besserung voller Freude zur Kenntnis.

Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, mit ihrer Mutter kein Wort mehr zu wechseln, bis diese von sich aus das Schweigen brach und zumindest die Andeutung einer Entschuldigung über die Lippen brachte, ertappte sie sich doch schon am dritten Tag dabei, ihr voller Stolz von den Fortschritten zu berichten, die Krons Heilung machte. Ihre Mutter sagte auch dazu nichts, aber in ihren Augen erschien ein sonderbar warmer Ausdruck, den Arri zwar nicht wirklich verstand, der aber dennoch irgendetwas zwischen ihnen zu bereinigen schien. Von diesem Augenblick an begriff sie sehr viel besser als zuvor, warum ihre Mutter das hier tat und die Menschen trotz allem, was sie ihr angetan hatten, noch immer heilte: weil es einfach ein gutes Gefühl war, einem anderen zu helfen.

Zur selben Zeit setzten sie ihre nächtlichen Ausflüge in den Wald fort, und dabei schienen ihr Streit und die düsteren Wolken, die am Horizont des Schicksals aufgetaucht waren, gleichermaßen vergessen zu sein; als führten sie nicht nur zwei Leben - ein geheimes und ein für jeden sichtbares -, sondern wären in diesen unterschiedlichen Leben auch verschiedene Menschen. Der Groll auf ihre Mutter war ebenso vergessen wie deren Hass und die Verbitterung - und auch die sonderbare Mischung aus Ungeduld und Sorge, die Arri stets in ihren Augen las, wenn sie glaubte, ihre Tochter bemerke es nicht.

Sie lernte viel in diesen Nächten. Ihre Mutter geizte zwar sehr viel mehr mit Lob als mit Tadel, vor allem dann, wenn sie der Meinung war, dass Arri irgendetwas nicht schnell genug begriff oder sich unnötig dumm anstellte; und dennoch spürte sie, dass sie im Grunde sehr zufrieden mit dem war, was sie sah. Die größte Freude bereiteten ihr die heimlichen Augenblicke, die sie auf der abgelegenen Waldlichtung mit der Unterweisung in ihr bislang vollkommen unbekannten Kampfarten verbrachten, immer sorgsam darauf bedacht, dass niemand auch nur im Entferntesten etwas davon mitbekam. Es war gar nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn Sarn oder jemand anderes im Dorf davon Wind bekäme. Das Kriegshandwerk war Männersache, und die knappen Unterweisungen im Umgang mit Pfeil und Bogen, Knüppeln oder den wenigen kostbaren Kupfer- und Bronzewaffen war etwas, um das jedes weibliche Wesen einen großen Bogen machte. Es war schon außergewöhnlich genug, dass man einer Frau den Besitz eines Schwertes gestattete, und wohl nur auf den Umstand zurückzuführen, dass man sie als Fremde nie wirklich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen hatte. Aber wenn Sarn erfahren hätte, dass Lea ihre Tochter in der Kampfkunst mit eben diesem Schwert unterwies - er hätte zweifellos damit den Grund gefunden, um ihr endgültig den Prozess zu machen.

Es waren heimliche, aufregende Begegnungen mit einer ganz neuen, fremden Welt, in denen Arri alles um sich herum vergaß, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - sie den Zwiespalt ihrer Mutter spürte. Offensichtlich erwies sie sich als äußerst gelehrige Schülerin. Schon nach wenigen Tagen forderte ihre Mutter sie nicht mehr dazu auf, sie mit einem Stock zu schlagen, sondern nahm sich ihrerseits einen kräftigen Ast, mit dem sie die Hiebe abwehrte und hin und wieder auch einen eigenen Treffer anbrachte; zumeist dann, wenn sie der Meinung war, dass Arri leichtsinnig oder sich ihrer Sache zu sicher wurde, oder vielleicht auch etwas fester zugeschlagen hatte, als wirklich notwendig war. In diesem einen besonderen Punkt sagte sie nie etwas und lobte ihre Tochter kein einziges Mal, doch das war auch nicht nötig. Was nichts daran änderte, dass Arri regelmäßig mit frischen blauen Flecken und schmerzenden Muskeln nach Hause zurückkehrte, kurz bevor die Sonne aufging.

Zehn Tage, nachdem Kron und sein Bruder von der Jagd heimgekehrt waren, fand er das erste Mal wieder die Kraft, aufzustehen und einige wenige Schritte zu laufen. Arri jubilierte innerlich, auch wenn der Jäger sie um ein Haar geschlagen hätte; er hatte seine Kräfte wohl überschätzt und war nach wenigen Schritten gestürzt, und selbstverständlich gab er ihr die Schuld an seinem Missgeschick, ebenso wie an dem Umstand, dass er nahezu auf die Hälfte seines Gewichts abgemagert war und noch immer unter Fieber und schlechten Träumen litt. Kron befand sich nicht nur eindeutig auf dem Weg der Besserung - er würde leben. Und früher oder später, so hoffte sie wenigstens, würde er sich vielleicht sogar mit seinem Schicksal abfinden und begreifen, dass er Arri für ihre aufopfernde Pflege dankbar sein musste.

Der Gedanke erfüllte sie mit einer solchen Zufriedenheit, dass sie wider besseres Wissen zu ihm hineilte und versuchte, ihm auf die Beine zu helfen - mit dem Ergebnis allerdings, dass sie seinem wütenden Schlag nur deshalb entging, weil Kron nach ihr hieb und sich dabei auf einen Arm zu stützen versuchte, den er gar nicht mehr hatte. Arri war nicht dumm genug, es ein zweites Mal zu versuchen, aber es gelang ihr trotzdem nicht, wirklich zornig auf Kron zu sein. Die wenigen Schritte, die der Jäger getan hatte, erfüllten sie mit einer solchen Freude, dass sie auf der Stelle herumfuhr und im Laufschritt loseilte. Sie musste ihrer Mutter von Krons Fortschritten berichten.

So schnell sie nur konnte, stürmte sie die Böschung hinauf und über den Dorfplatz, auf dem ein reges Treiben herrschte. Vor einer Hütte hatten sich ein paar Frauen und ältere Kinder zusammengehockt, um auf alte Art mit Reibsteinen Korn zu mahlen. An einer anderen Ecke waren zwei Frauen damit beschäftigt, eine einfache Mahlzeit aus Fladenbrot und Ackerbohnen für die Männer und Frauen vorzubereiten, die sich den Rücken bei der harten Arbeit auf den Feldern mit den Sicheln krumm machten oder unter großem Körpereinsatz bereits geerntete Dinkel- und Nacktgersteähren weiterverarbeiteten. Dazwischen wuselten die kleinen Kinder herum, die noch keine Aufgaben übernehmen konnten, und ganz in der Nähe der Hütte, die den neuen Gewichtswebstuhl mit den unzähligen Steingewichten beherbergte, der unter Anleitung ihrer Mutter und mit Arris Hilfe im letzten Jahr gebaut worden war, türmten gerade zwei Männer frisch geschnittenen Flachs auf, der noch gebrochen und gesponnen gehörte.

Arri nahm weder die verwunderten Blicke zur Kenntnis, die ihr einige der Männer und Frauen zuwarfen, noch die Schmährufe, mit denen sie Osh und ein paar der anderen Kinder bedachten. Auch Kron schrie ihr irgendetwas hinterher, und als sie den Dorfplatz verließ und in Richtung ihrer Hütte davoneilte, folgte ihr ein ganzer Chor von Beschimpfungen und Flüchen, den sie im ersten Moment gar nicht verstand, bis sie das Quieken und Grunzen wahrnahm, das sie wie die Kielspur eines kleinen Schiffes hinter sich herzog; offensichtlich hatte sie die sich sonst im Schlamm unter den Pfostenhäusern suhlenden Ferkel durcheinander gewirbelt, was deren Besitzer nicht gerade begeisterte. Aber welche Rolle spielte das schon?